Freitag, 12. Dezember 2014

Johann Christoph Gottsched: Von der Vollkommenheit einer Sprache überhaupt

Durch die Vollkommenheit einer Sprache versteht man hier nicht, eine durchgängige Uebereinstimmung aller ihrer Wörter und Redensarten, nach einerley allgemeinen Regeln, ohne alle Ausnahmen. Dieses würde die Vollkommenheit einer mit Fleiß erfundenen philosophischen Sprache seyn. Diese findet man aber nirgends. Ich rede nur von der Vollkommenheit derselben, in so weit sie in den wirklich vorhandenen Sprachen angetroffen wird: wo allerdings ein vieles nach gewissen Regeln übereinstimmet; obgleich viel anderes auch davon abweicht. Und in Ansehung dessen, kann man allen Sprachen auf dem Erdboden, einen gewissen Grad der Vollkommenheit nicht absprechen.

Will man aber die Größe dieser Vollkommenheit in gewissen Sprachen bestimmen: so hat man erst auf die Menge der Wörter und Redensarten zu sehen, die mit einander übereinstimmen. Je größer dieselbe ist, desto vollkommener ist eine Sprache. Nun giebt es aber sowohl wortarme, als wortreiche Sprachen: und ein jeder sieht, daß die letztern vollkommener seyn werden; weil man mehr Gedanken damit zu verstehen geben kann, als mit den erstern. Es ist also kein Zweifel, daß unsere deutsche Sprache, heut zu Tage, viel reicher an Worten und Redensarten ist, als sie vor zwey, drey oder mehr hundert Jahren, gewesen ist.

Wie nun der Reichthum und Überfluß die erste Vollkommenheit einer Sprache abgeben: so ist es auch gewiß, daß die Deutlichkeit derselben die zweyte ist. Denn die Sprache ist das Mittel, wodurch man seine Gedanken, und zwar in der Absicht ausdrücket, daß sie von andern verstanden werden sollen. Da aber dieser Zweck nicht erhalten wird, außer wenn die Wörter wohl zusammengefüget, und nach gewissen leichten Regeln verbunden werden: so kömmt es, bey der Größe der Vollkommenheit, auch darauf an, ob eine Sprache viel oder wenig Regeln nöthig hat? Je weniger und allgemeiner nun dieselben sind, d.i. je weniger Ausnahmen sie haben, desto größer ist ihre Vollkommenheit: wenn nur der Zweck der Rede, nämlich die deutliche Erklärung der Gedanken dadurch erhalten wird.

Die dritte gute Eigenschaft der Sprachen ist die Kürze, oder der Nachdruck; vermöge dessen man, mit wenigen Worten, viele Gedanken entdecken kann. Hier gehen nun zwar die bekannten Sprachen sehr von einander ab; indem die eine oft mit zweyen, dreyen Worten so viel saget, als die andere mit sechsen oder mehrern. Allein, insgemein hat jede Sprache wiederum ihre eigenen kurzen Ausdrückungen, die von einer andern ebenfalls nicht so kurz und deutlich können gegeben werden. So hebt denn mehrentheils eins das andere auf. Denn wenn z.E. ein Deutscher, in einer Übersetzung aus dem Französischen, etliche Wörter mehr gebrauchet, als der Grundtext hat: so würde ein Franzos, der etwas Deutsches vollständig übersetzen wollte, auch mehr Worte dazu brauchen, als das Original hätte.

Man könnte also fast sagen, daß alle Sprachen, die nur durch gelehrte Federn ausgearbeitet worden, gleich vollkommen wären: wenn es nicht manchen an dem Überflusse der Wörter mangelte, alle ihre Begriffe auszudrücken. Dieses sieht man am meisten in Wissenschaften, bey den Kunstwörtern: denn da müssen gewisse Sprachen alles aus andern borgen; wie die Lateiner z.E. von den Griechen; die Franzosen und Engländer aber von den Lateinern und Griechen. In Ansehung dessen nun, ist unsere Sprache viel reicher; und gewissermaßen der griechischen zu vergleichen: denn wir können fast alle Kunstwörter mit ursprünglichen deutschen Benennungen ausdrücken.

Man pflegt auch noch andere Eigenschaften zur Vollkommenheit und Schönheit einer Sprache zu erfordern, die aber so unstreitig nicht sind. Man redet z.E. von der Lieblichkeit und Anmuth gewisser, imgleichen von der Rauhigkeit anderer Mundarten. Weil aber der Begriff, oder die Empfindung dieser Lieblichkeit, nicht bey allen Menschen einerley ist, und aus der Vernunft schwerlich zu erweisen steht: so kann man nichts gewisses davon ausmachen. Es kömmt dabey alles auf die gelinde und härtere Aussprache, und auf die Empfindung und Gewohnheit der Ohren an. Einem Deutschen scheint der Franzos durch die Nase zu reden; ein Engländer aber durch die Zähne zu zischeln, oder zu lispeln: und das klingt uns unangenehm, so lange wir es noch nicht gewohnt sind. Ein Franzos aber beschuldiget die Deutschen, daß sie aus dem Halse, oder aus der Gurgel, sprechen: welches vielleicht von den nächsten Nachbarn der Franzosen, den Schweizern, wahr seyn kann; aber bey uns, wenigstens in den guten Provinzen von Deutschland, nicht geschieht, und selbst von den Franzosen, wenn sie uns hören, nicht empfunden wird.

Indessen kann man es doch wohl einräumen, daß die verschiedenen Mundarten einer Sprache einen unterschiedenen Wohlklang haben. In der einen Landschaft verbeißt man zu viele Selbstlauter, und zieht die Wörter zu kurz zusammen, daß sie also, von der Menge aneinanderstoßender Mitlauter, hart und rauh werden. In einer andern machet man fast aus allen Selbstlautern Doppellaute; und auch dieses machet den Klang der Wörter sehr fürchterlich. Manche verdoppeln die Mitlauter, oder sprechen die gelinden ohne Noth zu scharf aus, verkürzen auch wohl dadurch die langen Selbstlauter. Und durch alle diese Fehler wird eine Sprache unangenehm. Die Mundarten derer Landschaften, die zunächst an Wälschland und Frankreich stoßen, haben auf diese Art, die deutsche Sprache bey unsern Nachbarn in Übeln Ruf gebracht.

Wenn man fraget, ob unsere Sprache, seit ein Paar hundert Jahren, an Vollkommenheit zugenommen habe, so giebt es freylich Grübler, die solches läugnen, und uns wohl gar bereden wollen: daß man zur Zeit Kaiser Maximilians des I und Karls des V, ein nachdrücklicheres und kräftigeres Deutsch geredet und geschrieben habe, als itzo. Diese glauben also, daß unsere Sprache sich verschlimmert habe; indem sie, wie sie reden, viel schwatzhafter, und dabey gezwungener geworden, als sie vormals gewesen. Sie bemerken auch noch, daß man heute zu Tage eine Menge ausländischer Wörter und Redensarten ins Deutsche menget, die ihm gar nicht wohl stehen; und die kerndeutschen Ausdrückungen der Alten dafür fahren läßt: woraus denn nothwendig eine Verderbniß der Sprache hätte entstehen müssen.

Was aber die erste Ursache betrifft: so ist es zwar gewiß, daß die alte Rauhigkeit unserer Schriftsteller vor Opitzen, etwas nachdrücklicher klingt; aber an Lieblichkeit und Wohlklange, muß sie der heutigen Schreibart ein vieles nachgeben. Ihr Ausdruck ward oft, aus Mangel verschiedener Redensarten, und bestimmterer Wortfügungen, dunkel und zweydeutig: heute zu Tage aber, kann man diese Fehler, durch die Mannichfaltigkeit der Ausdrückungen, und eine bestimmtere Ordnung der Wörter, glücklich vermeiden. Doch billiget man auch die gar zu gedrechselten und gezwungenen Künsteleyen gewisser Neuern freylich nicht; die oft mit vielen Umschweifen wenig sagen, und gewiß in deutschen Ohren sehr undeutsch klingen.

Was ferner die Kürze betrifft, so kann man sich auch itzo noch eben so kurz zu verstehen geben, als vormals. Es kömmt alles auf die Fassung der Gedanken an: diese ist aber nicht jedermanns Werk. Opitz, Müller, Lassenius u.a. Neuere, haben sehr lakonisch schreiben können: sie haben aber auch die Perioden besser abgetheilet, als die Alten. Was endlich die ausländischen Wortfügungen, und fremden Redensarten anlanget, deren sich einige schlechte Übersetzer bedienet haben: so billiget man dieselben gar nicht; und sie müssen nicht sowohl der Sprache, als vielmehr nachläßigen Schriftstellern, zur Last geleget werden. Man darf also die in unserer Sprache geschehenen Veränderungen gar nicht bedauren: zumal, da wir nunmehr in derselben, in allen Künsten und Wissenschaften, eine Menge wohlgeschriebener Bücher haben, woran es den Alten fehlete; und wodurch der Reichthum unserer Muttersprache um die Hälfte gewachsen ist.

Aus dieser Ursache nun wäre es zu wünschen, daß unsere Sprache bey der itzigen Art, sie zu reden und zu schreiben, erhalten werden könnte: weil sie, allem Ansehen nach, denjenigen Grad der Vollkommenheit erreichet zu haben scheint, worinnen sie zu allen Vorfällen und Absichten einer ausgearbeiteten und artigen Sprache, geschickt und bequem ist. Die Regierung zweener allerdurchlauchtigsten Auguste in Sachsen, verdienet billig das goldne Alter derselben genennet zu werden: wenn man gleich schon die erste merkliche Verbesserung derselben, von Opitzens und Flemmings Zeiten anheben muß. Die Festsetzung der heutigen hochdeutschen Mundart aber kann nicht anders, als durch eine gute Sprachlehre geschehen; die den itzigen besten Gebrauch im Reden, in Regeln verwandelt, und den Nachkommen anpreist.

Indessen muß niemand denken, als wenn man in dieser kurzen Sprachlehre Willens wäre, von allen und jeden Redensarten unserer Sprache Grund anzugeben. Eigentlich ist dieses zwar das Werk der Sprachlehrer: und in dieser weitläuftigen Bedeutung haben die Alten das Wort Grammaticus genommen. Allein, das würde eine unendliche Arbeit werden, die noch in keiner Sprache von jemanden vollendet worden ist. Man muß also von einer Sprachlehre nur die allgemeinsten Regeln, und die merkwürdigsten Ausnahmen der Wörter und Redensarten suchen: wodurch Anfänger in den Stand gesetzet werden, im Reden und Schreiben fortzukommen; ohne sich durch die bösen Exempel derer, die ihre Sprache verderben, verfuhren zu lassen. Das Übrige müssen sie hernach aus der Übung lernen; oder auch aus besondern kritischen und grammatischen Anmerkungen ersetzen, die von guten Sprachkennern geschrieben worden. Sie werden aber auch den Werth von diesen besser beurtheilen können, wenn sie zuvor die Hauptregeln der Sprache recht gefasset haben.


ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

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