Donnerstag, 25. Dezember 2014

Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung

VOM TODE, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philosophie. Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne Aufhören gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, und ein jedes ist dem Tode verfallen, jedes wartet mit Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel. Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde. Sie reißt über das Grab, das sich dem Fuß vor jedem Schritt auftut. Sie läßt den Leib dem Abgrund verfallen sein, aber die freie Seele flattert darüber hinweg. Daß die Angst des Todes von solcher Scheidung in Leib und Seele nichts weiß, daß sie Ich Ich Ich brüllt und von Ableitung der Angst auf einen bloßen „Leib“ nichts hören will – was schert das die Philosophie. Mag der Mensch sich wie ein Wurm in die Falten der nackten Erde verkriechen vor den herzischenden Geschossen des blindunerbittlichen Tods, mag er es da gewaltsam unausweichlich verspüren, was er sonst nie verspürt: daß sein Ich nur ein Es wäre, wenn es stürbe, und mag er deshalb mit jedem Schrei, der noch in seiner Kehle ist, sein Ich ausschreien gegen den Unerbittlichen, von dem ihm solch unausdenkbare Vernichtung droht – die Philosophie lächelt zu all dieser Not ihr leeres Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger das Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Diesseits schlottern, auf ein Jenseits hin, von dem es gar nichts wissen will. Wenn der Mensch will ja gar nicht irgend welchen Fesseln entfliehen; er will bleiben, er will – leben. Die Philosophie, die ihm den Tod als ihren besonderen Schützling und als die großartige Gelegenheit anpreist, der Enge des Lebens zu entrinnen, scheint ihm nur zu höhnen. Der Mensch fühlt eben gar zu gut, daß er zwar zum Tode, aber nicht zum Selbstmord verurteilt ist. Und nur den Selbstmord vermöchte jene philosophische Empfehlung wahrhaft zu empfehlen, nicht den verhängten Tod Aller. Der Selbstmord ist nicht der natürliche Tod, sondern der widernatürliche schlechtweg. Die grauenhafte Fähigkeit zum Selbstmord unterscheidet den Menschen von allen Wesen, die wir kennen und die wir nicht kennen. Sie bezeichnet geradezu diesen Heraustritt aus allem Natürlichen. Es ist wohl nötig, daß der Mensch einmal in seinem Leben heraustrete; er muß einmal die kostbare Phiole voll Andacht herunterholen; er muß sich einmal in seiner furchtbaren Armut, Einsamkeit und Losgerissenheit von aller Welt gefühlt haben und eine Nacht lang Aug in Auge mit dem Nichts gestanden sein. Aber die Erde verlangt ihn wieder. Er darf den braunen Saft in jener Nacht nicht austrinken. Ihm ist ein anderer Ausweg aus dem Engpaß des Nichts bestimmt, als dieser Sturz in das Gähnen des Abgrunds. Der Mensch soll die Angst des Irdischen nicht von sich werfen; er soll in der Furcht des Todes – bleiben. / Er soll bleiben. Er soll also nichts andres, als was er schon will: bleiben. Die Angst des Irdischen soll von ihm genommen werden nur mit dem Irdischen selbst. Aber solang er auf der Erde lebt, soll er auch in der Angst des Irdischen bleiben. Und die Philosophie betrügt ihn um dieses Soll, indem sie den blauen Dunst ihres Allgedankens um das Irdische webt. Denn freilich: ein All würde nicht sterben und im All stürbe nichts. Sterben kann nur das Einzelne, und alles Sterbliche ist einsam. Dies, daß die Philosophie das Einzelne aus der Welt schaffen muß, diese Ab-schaffung des Etwas ist auch der Grund, weshalb sie idealistisch sein muß. Denn der „Idealismus“ mit seiner Verleugnung alles dessen, was das Einzelne vom All scheidet, ist das Handwerkszeug, mit dem sich die Philosophie den widerspenstigen Stoff so lange bearbeitet, bis er der Umnebelung mit dem Ein- und Allbegriff keinen Widerstand mehr entgegensetzt. Einmal in diesen Nebel alles eingesponnen, wäre freilich der Tod verschlungen, wenn auch nicht in den ewigen Sieg, so doch in die eine und allgemeine Nacht des Nichts. Und es ist der letzte Schluß dieser Weisheit: der Tod sei – Nichts. Aber in Wahrheit ist das kein letzter Schluß, sondern ein erster Anfang, und der Tod ist wahrhaftig nicht, was er scheint, nicht Nichts, sondern ein unerbittliches, nicht wegzuschaffendes Etwas. Auch aus dem Nebel, mit dem ihn die Philosophie umhüllt, tönt ungebrochen sein harter Ruf; in die Nacht des Nichts mochte sie ihn wohl verschlingen, aber seinen Giftstachel konnte sie ihm nicht ausbrechen, und die Angst des vor dem Stich dieses Stachels zitternden Menschen straft allezeit die mitleidige Lüge der Philosophie grausam Lügen.

Indem aber die Philosophie die dunkle Voraussetzung alles Lebens leugnet, indem sie nämlich den Tod nicht für Etwas gelten läßt, sondern ihn zum Nichts macht, erregt sie für sich selbst den Schein der Voraussetzungslosigkeit. Denn nun hat alles Erkennen des All zu seiner Voraussetzung – nichts. Vor dem einen und allgemeinen Erkennen des All gilt nur noch das eine und allgemeine Nichts. Wollte die Philosophie sich nicht vor dem Schrei der geängsteten Menschheit die Ohren verstopfen, so müßte sie davon ausgehen – und mit Bewußtsein ausgehen -: daß das Nichts des Todes ein Etwas, jedes neue Todesnichts ein neues, immer neu furchtbares, nicht wegzuredendes, nicht wegzuschweigendes Etwas ist. Und an Stelle des einen und allgemeinen, vor dem Schrei der Todesangst den Kopf in den Sand steckenden Nichts, das sie dem einen und allgemeinen Erkennen einzig vorangehen lassen will, müßte sie den Mut haben, jenem Schrei zu horchen und ihre Augen vor der grauenhaften Wirklichkeit nicht zu verschließen. Das Nichts ist nicht Nichts, es ist Etwas. Im dunkeln Hintergrund der Welt stehen als ihre unerschöpfliche Voraussetzung tausend Tode, statt des einen Nichts, das wirklich Nichts wäre, tausend Nichtse, die, eben weil viele, Etwas sind. Die Vielheit des Nichts, das von der Philosophie vorausgesetzt wird, die nicht aus der Welt zu bannende Wirklichkeit des Todes, die sich in dem nicht zu schweigenden Schrei seiner Opfer verkündet, sie macht den Grundgedanken der Philosophie, den Gedanken des einen und allgemeinen Erkennens des All zur Lüge, noch ehe er gedacht ist. Das dritthalbtausendjährige Geheimnis der Philosophie, das Schopenhauer an ihrem Sarg ausgeplaudert hat, daß der Tod ihr Musaget gewesen sei, verliert über uns seine Macht. Wir wollen keine Philosophie, die sich in die Gefolgschaft des Todes begibt und über seine währende Herrschaft uns durch den Allund Einklang ihres Tanzes hinwegtäuscht. Wir wollen überhaupt keine Täuschung. Wenn der Tod Etwas ist, so soll uns fortan keine Philosophie mit ihrer Behauptung, sie setze Nichts voraus, den Blick davon abwenden. Schauen wir doch jener Behauptung näher ins Auge. / War die Philosophie denn nicht schon durch jene ihre „einzige“ Voraussetzung, sie setze nichts voraus, selbst ganz voller Voraussetzung, ja selber ganz Voraussetzung? Immer wieder lief doch das Denken den Abhang der gleichen Frage, was die Welt sei, hinan; immer wieder ward an diese Frage alles andere etwa noch Fragwürdige angeschlossen; immer wieder endlich wurde die Antwort auf die Frage im Denken gesucht. Es ist, als ob diese an sich großartige Voraussetzung des denkbaren All den ganzen Kreis sonstiger Fragmöglichkeiten verschattete. Materialismus und Idealismus, beide – nicht bloß jener – „so alt wie die Philosophie“, haben gleichen Teil an ihr. Was ihr gegenüber Selbständigkeit beanspruchte, wurde entweder zum Schweigen gebracht oder überhört. Zum Schweigen gebracht wurde die Stimme, welche in einer Offenbarung die jenseits des Denkens entspringende Quelle göttlichen Wissens zu besitzen behauptete. Die philosophische Arbeit von Jahrhunderten ist dieser Auseinandersetzung des Wissens mit dem Glauben gewidmet; sie kommt zum Ziel in dem gleichen Augenblick, wo das Wissen vom All in sich selber zum Abschluß kommt. Denn als einen Abschluß muß man es wohl bezeichnen, wenn dies Wissen nicht mehr bloß seinen Gegenstand, das All, sondern auch sich selber restlos, wenigstens nach seinen eigenen Ansprüchen und in seiner selbsteigenen Weise restlos, umgreift. Das ist geschehen in Hegels Einziehung der Philosophiegeschichte ins System. Weiter scheint das Denken nicht mehr gehen zu können, als daß es sich selber als die innerste Tatsache, die ihm bekannt ist, nun als einen Teil des Systembaus, und natürlich als den abschließenden Teil, sichtbar hinstellt. Und eben in diesem Augenblick, wo die Philosophie ihre äußersten formellen Möglichkeiten erschöpft und die durch ihre eigene Natur gesetzte Grenze erreicht, scheint nun, wie schon bemerkt, auch die große vom Gang der Weltgeschichte ihr aufgenötigte Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Glauben gelöst zu werden.

(Beginn des 1921 erschienenen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1886-1929)

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