Montag, 22. Dezember 2014

Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht

Die vorliegende Abhandlung bespricht eine geschichtliche Erscheinung, welche von Wenigen beachtet, von Niemand nach ihrem ganzen Umfange untersucht worden ist. Die bisherige Althertumswissenschaft nennt das Mutterrecht nicht. Neu ist der Ausdruck, unbekannt der Familienzustand, welchen er bezeichnet. Die Behandlung eines solchen Gegenstandes bietet neben ungewöhnlichen Reizen auch ungewöhnliche Schwierigkeiten dar. Nicht nur, dass es an irgend erheblichen Vorurteilen fehlt: die bisherige Forschung hat überhaupt für die Erklärung jener Kulturperiode, der das Mutterrecht angehört, noch Nichts geleistet. Wir betreten also ein Gebiet, das die erste Urbarmachung erwartet. Aus den bekanntern Zeiten des Althertums sehen wir uns in frühere Perioden, aus der uns bisher allein vertrauten Gedankenwelt in eine gänzlich verschiedene ältere zurückversetzt. Jene Völker, mit deren Namen der Ruhm antiker Grösse ausschließlich verbunden zu werden pflegt, treten in den Hintergrund. Andere, welche die Höhe der klassischen Bildung nie erreichten, nehmen ihre Stelle ein. Eine unbekannte Welt eröffnet sich vor unsern Blicken. Je tiefer wir in sie eindringen, umso eigenthümlicher gestaltet sich alles um uns her. Ueberall Gegensätze zu den Ideen einer entwickeltern Kultur, überall ältere Anschauungen, ein Weltalter selbstständigen Gepräges, eine Gesittung, die nur nach ihrem eigenen Grundgesetz beurtheilt werden kann. Fremdartig steht das gynaikokratische Familienrecht nicht nur unserm heutigen, sondern schon dem antiken Bewusstsein gegenüber. Fremdartig und seltsamer Anlage erscheint neben dem hellenischen jenses ursprünglichere Lebensgesetz, dem das Mutterrecht angehört, aus welchem es hervorgegangen ist, aus dem es auch allein erklärt werden kann. Es ist der höchste Gedanke der folgenden Untersuchung, das bewegende Prinzip des gynaikokratischen Weltalters darzulegen und ihm sein richtiges Verhältnis einerseits zu tiefern Lebensstufen, andererseits zu einer entwickeltern Kultur anzuweisen. Meine Forschung setzt sich also eine viel umfassendere Aufgabe, als der für sie gewählte Titel anzuzeigen scheint. Sie verbreitet sich über alle Theile der gynaikokratischen Gesittung, sucht die einzelnen Züge derselben und dann den Grundgedanken, in welchem sie sich vereinigen, zu ermitteln und so das Bild einer durch die nachfolgende Entwicklung des Althertums zurückgedrängten oder völlig überwundenden Kulturstufe kenntlich wieder herzustellen. Hoch gesteckt ist das Ziel. Aber nur durch die grösste Erweiterung des Gesichtskreises lässt sich wahrer Verständniss erreichen und der wissenschaftliche Gedanke zu jener Klarheit und Vollendung hindurchführen, welche das Wesen der Erkenntniss bildet. Ich will es versuchen, Entwicklung und Umfang meiner Gedanken übersichtlich darzustellen und so das Studium der folgenden Abhandlung vorzubereiten und zu erleichtern.

(Vorrede zu der 1861 erschienenen Untersuchung)

ZUM GEBURTSTAG DES ALTERTUMSFORSCHERS

Über den Autor (1815-1887)

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