Freitag, 9. Mai 2014

Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit

»Ein Mensch ist unter Räuber gefallen, die ihn nackend ausgezogen und bei einer strengen Kälte auf die Straße geworfen haben.

Ein Reisender kommt an ihm vorbei, dem klagt er seinen Zustand und fleht ihn um Hilfe. ›Ich leide mit dir‹, ruft dieser gerührt aus, ›und gerne will ich dir geben, was ich habe. Nur fordere keine andern Dienste, denn dein Anblick greift mich an. Dort kommen Menschen, gib ihnen diese Geldbörse, und sie werden dir Hilfe schaffen.‹ – ›Gut gemeint‹, sagte der Verwundete, ›aber man muss auch das Leiden sehen können, wenn die Menschenpflicht es fordert. Der Griff in deinen Beutel ist nicht halb soviel wert als eine kleine Gewalt über deine weichlichen Sinne.‹«

Was war diese Handlung? Weder nützlich, noch moralisch, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß passioniert, gutherzig aus Affekt.

»Ein zweiter Reisender erscheint, der Verwundete erneuert seine Bitte. Diesem zweiten ist sein Geld lieb, und doch möchte er gern seine Menschenpflicht erfüllen. ›Ich versäume den Gewinn eines Guldens‹, sagte er, ›wenn ich die Zeit mit dir verliere. Willst du mir soviel, als ich versäume, von deinem Gelde geben, so lade ich dich auf meine Schultern und bringe dich in einem Kloster unter, das nur eine Stunde von hier entfernt liegt.‹ – ›Eine kluge Auskunft‹, versetzt der andre. ›Aber man muss bekennen, dass deine Dienstfertigkeit dir nicht hoch zu stehen kommt. Ich sehe dort einen Reiter kommen, der mir die Hilfe umsonst leisten wird, die dir nur um einen Gulden feil ist.‹«

Was war nun diese Handlung: Weder gutherzig, noch pflichtmäßig, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß nützlich.

»Der dritte Reisende steht bei dem Verwundeten still und lässt sich die Erzählung seines Unglücks wiederholen. Nachdenkend und mit sich selbst kämpfend steht er da, nachdem der andre ausgeredet hat. ›Es wird mir schwer werden‹, sagt er endlich, ›mich von dem Mantel zu trennen, der meinem kranken Körper der einzige Schutz ist, und dir mein Pferd zu überlassen, da meine Kräfte erschöpft sind. Aber die Pflicht gebietet mir, dir zu dienen. Besteige also mein Pferd und hülle dich in meinen Mantel, so will ich dich hinführen, wo dir geholfen werden kann.‹ – ›Dank dir, braver Mann, für deine redliche Meinung‹, erwidert jener, ›aber du sollst, da du selbst bedürftig bist, um meinetwillen kein Ungemach leiden. Dort sehe ich zwei starke Männer kommen, die mir den Dienst werden leisten können, der dir sauer wird.‹«

Diese Handlung war rein (aber auch nicht mehr als) moralisch, weil sie gegen das Interesse der Sinne, aus Achtung fürs Gesetz unternommen wurde.

»Jetzt nähern sich die zwei Männer dem Verwundeten und fangen an, ihn um sein Unglück zu befragen. Kaum eröffnet er den Mund, so rufen beide mit Erstaunen: ›Er ists! Es ist der nämliche, den wir suchen.‹ Jener erkennt sie und erschrickt. Es entdeckt sich, dass beide ihren abgesagten Feind und den Urheber ihres Unglücks in ihm erkennen und dem sie nachgereist sind, um eine blutige Rache an ihm zu nehmen. ›Befriedigt jetzt euren Hass und eure Rache‹, fängt jener an, ›der Tod und nicht Hilfe ist es, was ich von euch erwarten kann.‹ – ›Nein‹, erwidert einer von ihnen, ›damit du siehst, wer wir sind und wer du bist, so nimm diese Kleider und bedecke dich. Wir wollen dich zwischen uns in die Mitte nehmen und dich hinbringen, wo dir geholfen werden kann.‹ – ›Großmütiger Feind‹, ruft der Verwundete voll Rührung, ›du beschämst mich, du entwaffnest meinen Hass. Komm jetzt, umarme mich und mache deine Wohltat vollkommen durch eine herzliche Vergebung.‹ – ›Mäßige dich, Freund‹, erwidert der andere frostig. ›Nicht weil ich dir verzeihe, will ich dir helfen, sondern weil du elend bist.‹ – ›So nimm auch deine Kleidung zurück‹, ruft der Unglückliche, indem er sie von sich wirft. ›Werde aus mir, was da will. Eher will ich elendiglich umkommen, als einem stolzen Feind meine Rettung verdanken.‹

Indem er aufsteht und den Versuch macht, sich wegzubegeben, nähert sich ein fünfter Wanderer, der eine schwere Last auf dem Rücken trägt. ›Ich bin so oft getäuscht worden‹, denkt der Verwundete, ›und der sieht mir nicht aus wie einer, der mir helfen wollte. Ich will ihn vorübergehen lassen.‹- Sobald der Wandrer ihn ansichtig wird, legt er seine Bürde nieder. ›Ich sehe‹, fängt er aus eignem Antrieb an, ›dass du verwundet bist und deine Kräfte dich verlassen. Das nächste Dorf ist noch ferne, und du wirst dich verbluten, ehe du davor anlangst. Steige auf meinen Rücken, so will ich mich frisch aufmachen und dich hinbringen.‹ – ›Aber was wird aus deinem Bündel werden, das du hier auf freier Landstraße zurücklassen musst?‹ – ›Das weiß ich nicht, und das bekümmert mich nicht‹, sagt der Lastträger. ›Ich weiß aber, daß du Hülfe brauchst und dass ich schuldig bin, sie dir zu geben.‹«

Die Schönheit der fünften Handlung muss in demjenigen Zuge liegen, den sie mit keiner der vorhergehenden gemein hat. / Nun haben: 1. Alle fünf helfen wollen. 2. Die meisten haben ein zweckmäßiges Mittel dazu erwählt. 3. Mehrere wollten es sich etwas kosten lassen. 4. Einige haben eine große Selbstüberwindung dabei bewiesen. Einer darunter hat aus dem reinsten moralischen Antrieb gehandelt. Aber nur der fünfte hat unaufgefordert und ohne mit sich zu Rat zu gehen geholfen, obgleich es auf seine Kosten ging. Nur der fünfte hat sich selbst ganz dabei vergessen und »seine Pflicht mit einer Leichtigkeit erfüllt, als wenn bloß der Instinkt aus ihm gehandelt hätte«. – Also wäre eine moralische Handlung alsdann erst eine schöne Handlung, wenn sie aussieht wie eine sich von selbst ergebende Wirkung der Natur. Mit einem Worte: eine freie Handlung ist eine schöne Handlung, wenn die Autonomie des Gemüts und Autonomie in der Erscheinung koinzidieren.

Aus diesem Grunde ist das Maximum der Charaktervollkommenheit eines Menschen moralische Schönheit, denn sie tritt nur alsdann ein, wenn ihm die Pflicht zur Natur geworden ist.

(Aus dem Brief an Christian Gottfried Körner vom 18. Februar 1793)

ZUM TODESTAG DES DICHTERPHILOSOPHEN

Über den Autor (1759-1805)

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