Nichts berührt uns in den Evangelien fremder als die Dämonengeschichten,
die sich so häufig in ihnen finden und auf welche die Evangelisten ein
so hohes Gewicht gelegt haben. Mancher unter uns lehnt jene Schriften
schon deshalb ab, weil sie solche unverständige Dinge berichten. Hier
ist es nun wichtig zu wissen, daß sich ganz ähnliche Erzählungen in
vielen Schriften jener Zeit finden, in griechischen, römischen und
jüdischen. Die Vorstellung der „Besessenheit“ war überall eine geläufige, ja sogar die damalige Wissenschaft
fasste einen großen Kreis krankhafter Erscheinungen so auf. Eben deshalb
aber, weil die Erscheinungen so gedeutet wurden, dass eine böse geistige
Macht von dem Menschen Besitz ergriffen habe, nahmen die
Gemütskrankheiten Formen an, wie wenn wirklich ein fremdes Wesen in die
Seele eingedrungen sei. Das ist nicht paradox. Gesetzt den Fall, unsere
heutige Wissenschaft würde erklären, dass ein großer Teil der
Nervenkrankheiten aus Besessenheit stamme, und diese Erklärung
verbreitete sich durch die Zeitungen im Volke, so würden wir bald wieder
zahlreiche Fälle erleben, in denen Gemütskranke wie von einem bösen
Geist ergriffen zu sein scheinen und glauben. Die Theorie und der Glaube
würden suggestiv wirken und „Dämonische“ genau ebenso unter den
Geisteskranken erzeugen, wie sie sie Jahrhunderte, ja Jahrtausende
hindurch erzeugt haben. Es ist also ungeschichtlich und töricht, dem
Evangelium und den Evangelien eine ihnen eigentümliche Vorstellung oder
gar „Lehre“ von den Dämonen und dem Dämonischen zuzuschreiben. Sie
nehmen nur an den allgemeinen Zeitvorstellungen teil. Heute begegnen wir
diesen Formen der Geisteskrankheiten nur noch selten; ausgestorben sind
sie jedoch noch nicht. Wo sie aber auftreten, ist heute noch wie damals
das beste Mittel, ihnen zu begegnen, das Wort einer kräftigen
Persönlichkeit. Sie vermag den „Teufel“ zu bedrohen, zu bezwingen und so
den Kranken zu heilen. In Palästina müssen die „Dämonischen“ besonders
zahlreich gewesen sein. Jesus erkannte in ihnen die Macht des Übels und
des Bösen, und durch die wunderbare Gewalt über die Seelen derer, die
ihm vertrauten, bannte er die Krankheit.
(Aus der Vierten Vorlesung im Wintersemester 1899/1900)
ZUM GEBURTSTAG DES THEOLOGEN
Über den Autor (1851-1930)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen