Mittwoch, 7. Mai 2014

Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums

Nichts berührt uns in den Evangelien fremder als die Dämonengeschichten, die sich so häufig in ihnen finden und auf welche die Evangelisten ein so hohes Gewicht gelegt haben. Mancher unter uns lehnt jene Schriften schon deshalb ab, weil sie solche unverständige Dinge berichten. Hier ist es nun wichtig zu wissen, daß sich ganz ähnliche Erzählungen in vielen Schriften jener Zeit finden, in griechischen, römischen und jüdischen. Die Vorstellung der „Besessenheit“ war überall eine geläufige, ja sogar die damalige Wissenschaft fasste einen großen Kreis krankhafter Erscheinungen so auf. Eben deshalb aber, weil die Erscheinungen so gedeutet wurden, dass eine böse geistige Macht von dem Menschen Besitz ergriffen habe, nahmen die Gemütskrankheiten Formen an, wie wenn wirklich ein fremdes Wesen in die Seele eingedrungen sei. Das ist nicht paradox. Gesetzt den Fall, unsere heutige Wissenschaft würde erklären, dass ein großer Teil der Nervenkrankheiten aus Besessenheit stamme, und diese Erklärung verbreitete sich durch die Zeitungen im Volke, so würden wir bald wieder zahlreiche Fälle erleben, in denen Gemütskranke wie von einem bösen Geist ergriffen zu sein scheinen und glauben. Die Theorie und der Glaube würden suggestiv wirken und „Dämonische“ genau ebenso unter den Geisteskranken erzeugen, wie sie sie Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch erzeugt haben. Es ist also ungeschichtlich und töricht, dem Evangelium und den Evangelien eine ihnen eigentümliche Vorstellung oder gar „Lehre“ von den Dämonen und dem Dämonischen zuzuschreiben. Sie nehmen nur an den allgemeinen Zeitvorstellungen teil. Heute begegnen wir diesen Formen der Geisteskrankheiten nur noch selten; ausgestorben sind sie jedoch noch nicht. Wo sie aber auftreten, ist heute noch wie damals das beste Mittel, ihnen zu begegnen, das Wort einer kräftigen Persönlichkeit. Sie vermag den „Teufel“ zu bedrohen, zu bezwingen und so den Kranken zu heilen. In Palästina müssen die „Dämonischen“ besonders zahlreich gewesen sein. Jesus erkannte in ihnen die Macht des Übels und des Bösen, und durch die wunderbare Gewalt über die Seelen derer, die ihm vertrauten, bannte er die Krankheit.

(Aus der Vierten Vorlesung im Wintersemester 1899/1900)

ZUM GEBURTSTAG DES THEOLOGEN

Über den Autor (1851-1930)

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