Sonntag, 6. Juli 2014

Johann Gustav Droysen: Grundriss der Historik

§. 1. Natur und Geschichte sind die weitesten Begriffe, unter denen der menschliche Geist die Welt der Erscheinungen begreift. Und er fasst sie so den ihm typischen Anschauungen Raum und Zeit gemäß. / Nicht objektiv scheiden sich die Erscheinungen nach Raum und Zeit; unsre Auffassung unterscheidet sie, je nachdem die Erscheinungen sich mehr dem Raum nach, mehr der Zeit nach zu verhalten scheinen. / Bestimmtheit und Inhalt gewinnen die Begriffe Natur und Gechichte in dem Maße, als das Nebeneinander des Seienden, das Nacheinander des Gewordenen wahrgenommen, erforscht, erkannt wird.
§. 2. Die rastlose Bewegung in der Welt der Erscheinungen lässt uns die Dinge als im steten Werden auffassen, mag das Werden der einen sich periodisch zu wiederholen, das der andern sich in der
Wiederholung summierend in rastloser Steigerung zu wachsen scheinen. / In denjenigen Erscheinungen, in welchen sich uns ein solches Fortschreiten zeigt, gilt uns das Nacheinander, das Moment der Zeit als das Maßgebende. Sie fassen wir auf und zusammen als Geschichte.
§. 3. Dem menschlichen Auge erscheint nur das Menschliche in stets fortschreitender Steigerung. Und die Summierung derselben ist die sittliche Welt. Nur auf diese, oder doch vor allem auf diese, wird der Ausdruck Geschichte angewandt.
§. 4. Die Geschichte ist ein Ergebniss empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens. / Die unmittelbare Wahrnehmung, die subjektive Auffassung des Wahrgenommenen zu prüfen, zu verifizieren, zu objektiver Kenntnis umzuformen, ist die Aufgabe der historischen Wissenschaft.
§. 5. Alle empirische Wahrnehmung und Forschung bestimmt sich nach den Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist. Und sie kann sich nur auf solche richten, die ihr zu unmittelbarer, zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit gegenwärtig sind. / Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen; sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.
§. 6. Jeder Punkt in der Gegenwart ist ein gewordener. Was er war und wie er wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm. / Aber nur ideell, erloschene Züge, latente Scheine; ungewusst sind sie da, als wären sie nicht da. / Der forschende Blick, der Blick der Forschung vermag sie zu erwecken, wieder aufleben, in das leere Dunkel der Vergangenheiten zurückleuchten zu lassen. / Nicht die Vergangenheiten werden hell, sondern was von ihnen noch unvergangen ist. Diese erweckten Scheine sind ideell die Vergangenheit, sind das geistige Gegenbild der Vergangenheit. / Der endliche Geist hat nur das Jetzt und Hier. Aber diese dürftige Enge seines Seins erweitert er sich vorwärts mit seinen Hoffnungen und Zwecken, rückwärts mit der Fülle seiner Erinnerungen. So ideell die Zukunft und die Vergangenheit in sich zusammenschließend, hat er ein Analogon der Ewigkeit. / Er umleuchtet seine Gegenwart mit den Bildern der Vergangenheit, die kein Sein und keine Dauer hat, außer im Geist und durch ihn. / Die Erinnerung schafft ihm die Formen und die Stoffe seiner geistigen Welt.
§. 7. Nur was Menschengeist und Menschensinn gestaltet, geprägt, berührt hat, nur die Menschenspur leuchtet uns wieder auf. / Prägend, formend, ordnend, in jeder Äußerung gibt der Mensch einen Ausdruck seines individuellen Wesens, seines Ich. Was von solchen Ausdrücken und Abdrücken irgendwie, irgendwo vorhanden ist, spricht zu uns, ist uns verständlich.

(Beginn der Einleitung des 1868 erschienenen Geschichtswerks)

ZUM GEBURTSTAG DES HISTORIKERS

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