Freitag, 28. November 2014

Stefan Zweig: An Romain Rolland

Mein lieber und verehrter Freund, ich schreibe Ihnen heute deutsch, weil ich nicht weiß, ob ich alles, was ich sagen will, genug klar ausdrücken kann. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen unsere intellectuelle Situation zu schildern. Denn der jetzige Augenblick ist ein kritischer.

Meine Beziehung zu den meisten deutschen Menschen beginnt jetzt wieder peinlich zu werden. Menschen, die schon ganz klar fühlten, die sogar diese Klarheit in Worten zum Ausdruck brachten, ziehen sich mit einem mal zurück: Deutschland hat nur einen Gedanken jetzt – und dieser Gedanke drückt sich in allen seinen Menschen aus –: nicht mehr aufrichtig zu sein. Ganz Deutschland arbeitet jetzt an einer Lüge, an einer neuen Legende: Der Kaiser, Ludendorff werden jetzt plötzlich große Persönlichkeiten, der Krieg eine heilige Sache. Alles ist vergessen: die Jugend glüht vor Hass, fiebert nach Krieg, die Professoren, die bestürzt über ihre eigene Dummheit ein wenig geschwiegen hatten, blasen wieder in die teutonischen Hörner.

Der wildeste Wahn ist wieder wach.

Nie waren wir mehr isoliert als jetzt. In den schlimmsten Tagen des Krieges hatten wir Verbündete, vor allem das Leiden des Volkes, das jedes Wort des Friedens im geheimen segnete, wir hatten die Wirklichkeit des Krieges als Gegner, gegen den man kämpfen konnte. Aber schon entsteht wieder das Phantom des Krieges, herrlich idealisiert als Krieg der Rache und der Gerechtigkeit – wie gegen Wahnbilder kämpfen? Was wir sagten, ist vergeblich gegen eine Mentalität, die nicht hören will und die gegen unsere heiligsten Bemühungen das Argument hat: seht, wie die Feinde den Frieden verstehen.

Diese Lüge ist das Schlimmste in der Tat, was Frankreich und England an Deutschland getan haben. Der Hunger traf nur den Leib, – das Rachegelüst, das sich in den letzten französischen Beschlüssen kund tut und auf 42 Jahre von ungeborenen Kindern noch Sclavenarbeit verlangt, hat die deutsche Seele vergiftet. Wir, Sie und ich leben unter Rasenden, unter Wahnsinnigen. Die Deutschen lügen sich aus Verzweiflung jetzt selbst an – wahr ist in ihnen nur der rasende Hass.

Und, lieber verehrter Freund, wie entsetzlich – ich verstehe diesen Hass! Ich teile ihn selbstverständlich nicht, ich weiß ja, dass es ein »Volk«, eine »Nation« gar nicht gibt, sondern nur Menschen. Aber wie das den Leuten erklären dass es Franzosen gibt, die das Quälerische, das Erpresserische missbilligen, wie ihnen das Schweigen des französischen Parlaments (das für sie das Volk darstellt) glaubhaft machen? Die Leute haben ja Recht, wenn sie sagen, dass Artaxerxes und Timur nie einen so grausamen Frieden geschlossen haben, dass Bismarck, den man als einen Gewalttätigen verschrien, eine sentimentale Jungfrau war gegen diese Herren des Rechtes. Und mit Entsetzen sehe ich, dass gerade dadurch, dass Frankreich den Tribut auf ein halbes Jahrhundert erstreckt, dass noch in 42 Jahren Salz in die deutsche Wunde gestreut werden soll, die Revanche unvermeidlich sein wird. Wenn Wunden heilen sollen, muß man ihnen Zeit lassen, sich zu schließen.

Nie habe ich die moralische Atmosphäre giftiger und erstickender empfunden als jetzt, nie unsere Einsamkeit hilfloser, unser Wort sinnloser. Vom Zustand der deutschen Lüge (die jetzt den Krieg als Pflicht von neuem feiert) machen Sie sich keinen Begriff. Die ganze Jugend ist vergiftet, alle Zeitungen, selbst jene, die von Stinnes noch nicht gekauft sind, dem Wahn verfallen. Aber ich wiederhole: das Volk ist in die Sackgasse dieses ziellosen Hasses hineingetrieben worden. Und – offen gesagt – ich weiß keinen Ausweg für sie. Und doch sind wir irgendwie verantwortlich, ihnen eine Tröstung zu geben. Das Moskauer Zaubertränklein ist ja billig und leicht zu verabreichen – aber wir sind ja Seelenärzte genug, um zu wissen, dass diese Arznei sofort wieder zum Gifte wird.

Was tun? Zu Menschen sprechen, die sich den Finger in die Ohren stopfen und laut brüllen, um nicht denken zu müssen? Oder öffentlich protestieren? Unsere Proteste sind so wertlos wie österreichische Banknoten. Oder warten, bis der Wahn vorbei ist? Das ginge, würde nicht 42 Jahre, Jahr für Jahr die Wunde aufgerissen. Ich und Sie, wir haben keine 42 wachen Jahre mehr! Es ist entsetzlich für uns in Deutschland, gerade die Jugend und immer wieder die neue Jugend gegen sich zu haben – zu sehen, dass die, die für uns nur gegen den Krieg zeugen könnten, dass die Kriegsteilnehmer und Invaliden aus Hass lügen und für den Krieg und gegen uns zeugen. Wahr ist der Tribut durch 42 Jahre und was kann dieses unser Wort gegen jene Wahrheit!

Glauben Sie nicht, ich sei müde oder feig geworden vor der Übermacht. Ich frage mich nur: wie dieser Lüge, in der doch eine Wahrheit die treibende Kraft ist, entgegentreten? Können wir von Deutschland aus überhaupt noch etwas tun, ich meine, etwas positives, denn unsere Gesinnung ist ja ein esoterischer Wert? Ach, wenn Sie wüssten, wie widerlich mir diese Teutschen Teutonen mit ihrem Kriegsgeheul sind (ich weiß, es ist auch Heulen, weil sie Steuern zahlen sollen) und wie ich doch diese missleiteten und enttäuschten Menschen, dies in die Knie gedrückte Volk bemitleide!

Wie compliciert ist all dies geworden! Und wie einfach haben wir uns alles gedacht. Wir meinten, beim Sieger würde Begeisterung, beim Besiegten Ekel vor dem Krieg sein. Und es ist umgekehrt! Wirklich, man soll kein Ziel stellen für sein Wirken, sondern nur rein wirken, gerade aus sich heraus: vielleicht hilft man den andern nur, wenn man sich selbst hilft.

Ich muss Ihnen einmal dies Alles schildern – ich könnte Tage davon erzählen! Ein Buch über die Desbordes-Valmore (aus 1914 Pariser Tagen) sende ich gleichzeitig mit. Über meine Biographie sind schon viel Aufsätze erschienen. Mit vielen Grüßen

Ihr getreuer Stefan Zweig

(Brief  vom 8. Februar 1921)

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor  (1881-1942)

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