Freitag, 30. Januar 2015

Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik

Noch steht die Menschheit in den Kinderschuhen ihrer Cultur oder in den Anfängen der technischen Gleisen, die sich der Geist selbst zu seinem Voranschreiten zu legen hat. Von dem bis jetzt durchlaufenen, verhältnissmässig kurzem Stadium lassen sich nach Maassgabe des Erreichten, bei progressiver Vervollkommnung von Werkzeug und Maschine und unter gleichzeitig wachsender Indienstnahme der Naturkräfte, die kühnsten Schlussfolgerungen auf eine ausser allem Ermessen liegende Grösse der Culturzukunft machen.

Entsprechend der zunehmenden Kenntnis des leiblichen Organismus wird ein höheres Selbstbewusstsein heilend die Gesellschaft durchdringen und mit der Milderung der Conflicte der Individuen unter sich und der Staaten unter einander die pessimistische Weltanschauung auf einen für den gesunden Optimismus unentbehrlichen Grad herabstimmen.

Die erweiterte, in festen Gedankeninhalt verwandelte Kenntniss von den organischen Grundbedingungen des Staatslebens wird das Gesetz zu Inhalt und Form ethischer Satzung vereinfachen.

Die apostolische Botschaft, welche den Leib als einen Tempel des heiligen Geistes proclamirt hat, wird ihre bisher so fragmentarische Bethätigung durch eine Religion des Leibes ergänzen und wird alsdann, die Ansprüche Aller auf die irdische Wirklichkeit mit den Anweisungen auf das transcendente Jenseits versöhnend, ihre Selbsterneuerung und die Erlösung von allem Uebel socialer Missstände vollziehen.

Die Erkenntnis wird vom leiblichen Selbst aus höhere Aufschlüsse ertheilen über annoch ungelöste Probleme des Wissens, über die Herkunft des Begriffes von Raum und Zeit, über das Ding an sich in der Vielheit der Dinge und seine in der Relation zur Entwickelung des Selbstbewusstseins vor sich gehende stufenweise Entschleierung.

Die Kunst wird beharrlich fortfahren, in ihrem Verwachsensein mit der Urheimath alles Schönen, mit der organischen Idee, das morphologische Grundgesetz zu einer alle Verhältnisse des Lebens verklärenden Macht zu erheben.

Die Einsicht wird sich befestigen, dass des Menschen Freiheit nur innerhalb seiner, mit dem Selbstbewusstsein gleichen Schritt haltenden, Freiheitsfähigkeit möglich ist. Jedwede andere Richtung als diejenige, welche von der menschlichen Uranlage angestrebt wird, auferlegt dem Willen äusseren Zwang und Unfreiheit. Daher wird sich herausstellen, dass nur in dem durch Zucht und Erziehung vermittelten, gewusst gewollten Einklang mit der inneren organischen Nothwendigkeit die wahre Freiheit zu finden, und dass der Mensch, damit er auf sein Werden zu dem, was er sein soll, auch Werth lege, der selbstthätige freie Wille nothwendig ist. Ueberhaupt nur innerhalb des menschlichen Wesens denkbar, scheitert darüber hinaus der Wille nach oben an titanenhafter, nach unten an brutaler Ohnmacht.

Unter der Voraussetzung der Indentität von Freiheit und innerer Nothwendigkeit, wie sie aus dem Verständniss von Werkzeug und Maschine, von Mensch und Arbeit, je nach der Entwickelung des Einen aus dem Anderen und nach der Erklärung des Einen durch das Andere hervorgeht, giebt der Staat den Anhalt für eine fortschreitend höhere Auffassung der organischen Idee. Auf ihr beruhen die Erfolge des wissenschaftlichen Strebens, in ihr bewegen sich alle philosophische Systeme, sie ist die Verheissung der religiösen Wiedergeburt auf dem Fundamente desjenigen Glaubens, unter dessen Symbol die Culturvölker der Erde stehen.

So bleibt das nächst Liegende und Gegebene, wovon alle Speculation ausgeht und wohin sie zurückkehrt, der Mensch – und sein höchstes reales Gebilde, der Staat, das menschliche Alles in Allem. – – –

Hervor aus Werkzeugen und Maschinen, die er geschaffen, aus den Lettern, die er erdacht, tritt der Mensch, der Deus ex Machina, sich selbst gegenüber.

(Schluss des 1877 erschienenen kulturgeschichtlichen Werks)

ZUM TODESTAG DES PÄDAGOGEN

Über den Autor (1808-1896)

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