Die Maschine zischt, der Dampf pustet die Wagen entlang, die
Reisenden steigen ein. Noch hält der Zug. Es entsteht jene peinliche
Pause, während der kein Mensch mehr weiß, was er nun noch sagen soll:
der, der den Kopf zum Fenster heraussteckt, nicht, und die, die den
Freund zum Bahnhof gebracht haben, auch nicht. Endlich! Leise ruckt der
Zug an – einige mäßig weiße Taschentücher schwenken durch die Luft,
Köpfe nicken, Hände winken – Adieu! Adieu! – Auf Wiedersehn! und ein
letztes Scherzwort, das einem gerade noch eingefallen ist. Und ein paar
stille Tränen. Aus.
Übrigens geht da der Bahnhofsvorsteher, mit einem dicken Buch
vorn in der Brusttasche, einer roten Mütze und einem kleinen
Signalstock. Er sieht und hört nichts von den Taschentuchleuten und
nichts von den Weinenden. Er geht eilig in sein Bureau, wo es
vertrauensvoll und dienstlich klingelt. Ist das ein abgehärteter Mann!
Hat er gar keine Augen?
Er sieht das täglich zwanzigmal. Er sieht es nicht mehr.
Denn was man täglich sieht, das bekommt eine andere Färbung –
wird zur Maschine – ist schließlich nachher als Erlebnis gar nicht mehr
da. Kaum anzunehmen, daß der Bahnhofsvorsteher, auf einem fremden
Bahnhof als Fahrgast weilend, den Abschiednehmenden gar so große
Aufmerksamkeit schenken wird. Er kennt das alles.
Und sieht also alles viel besser? Ich glaube nicht. Zum Schluß
sieht er gar nichts mehr. Und wer einmal, ein einziges Mal, so einen
Bahnhofsabschied blitzartig erlebt hat, der trägt wohl mehr Farbe, Duft,
Ton davon nach Hause als der Bahnhofsvorsteher, für den es zum
täglichen Klipp-Klapp eines Automaten geworden ist. Und das ist überall
so.
Der Arzt weiß so viel vom Patienten – und weniger als ein
Beobachter, der einmal das Wartezimmer bevölkert hat. Der Fremdenführer
hat kein Auge mehr für sein Schloß, das er jeden Tag durchpilgert, und
dessen Sehenswürdigkeiten er jeden Tag ableiern muß – der Besucher hat
viel mehr davon. Der Wirt sieht sein Lokal anders als der Gast; der
Schauspieler das Theater anders als das Publikum. Nämlich von innen her.
Und das ist mitunter nicht so ergötzlich.
Als einer der deutschen Kaiser, derentwegen ich im
Abiturientenexamen durchgefallen bin, einmal ein Kloster besuchte, sagte
er zu dem Prior: »Ihr habt's hier aber schön! Welch herrlicher Garten!
Welch herrliches Refektorium!« Und einer der Mönche erwiderte: »Ja –
herrlich – transeuntibus!« Was etwa heißt: für die, die nur
vorübergehen! – Das ist ein wahres Wort.
Und wir haben bei uns so viele Bahnhofsvorsteher. Jeder ist auf
irgendeinem Gebiet »Fachmann«. Und jeder glaubt, daß nun nie wieder
irgendein Mensch über dieses Gebiet sprechen dürfte, weil er selbst doch
Fachmann ist. »Mir werden Sie da doch nichts erzählen!« – Aber hundert
mitgemachte Fußballspiele, hundert Operationen, hundert Reisen sind –
was die Eindrücke angeht – mitunter weniger als eine einzige. Daher ja
auch die leise Enttäuschung, die uns immer befällt, wenn wir – was man
nie tun soll – einmal zurückkehren, »weil es da doch so schön gewesen
ist«. Das zweitemal – das drittemal: da sehen die Augen alles viel zu
scharf, viel zu exakt, viel zu sachlich: die Flecke auf dem Tischtuch,
das blinde Glas, den abgebröckelten Mauerverputz ... War das früher
alles auch so?
Man muß sich wohl, um ein starkes Erlebnis zu haben, in dem
schönen Glauben wiegen, der Einzige, der Erstmalige, der Einmalige zu
sein. Dabei ist immer ein Bahnhofsvorsteher da, der heimlich in seinen
Schnurrbart lächelt und denkt: »Mensch! Das haben wir hier alle Tage!
Immer heulen die Frauen an dieser Stelle, zu dieser Stunde, an diesem
Ort – immer machen die Männer hier so ein ernstes Gesicht; immer gibt es
hier die Schwierigkeiten mit den Autos; immer wackelt hier das schwere
Gepäck auf den kleinen Wagen ...« Immer? Für uns jedenfalls nur dieses
eine Mal.
Und die Komik des Menschen enthüllt sich wohl nirgends so stark
als in dieser Egalisierung in feierlichen Lagen. (Weshalb ja auch
Totengräber, Anatomiediener, Offiziersordonnanzen, kurz Menschen, die
den Betrieb von hinten sehen, meist so große Philosophen sind. So sagte
einmal ein Anatomiediener an der Berliner Charité: »Jeder von uns stirbt
an seinem Blinddarm! Er muß es nur erleben.« – Und ich kannte einen
Musikmeister im Felde, der sah die Menschheit überhaupt nur in
besoffenem Zustand ...)
Ich glaube, daß man sich mit der Automatisierung des Betriebes
die besten Eindrücke verdirbt. Sicherlich ist das Bild richtig, soweit
etwas richtig sein kann – sicherlich macht sich der Einmalige seine
Illusionen. Aber sie gehen vielleicht doch tiefer als die kalte
Erfahrung des Routiniers.
Wobei es sehr heiter zu beobachten ist, daß natürlich jeder
Bahnhofsvorsteher, will sagen: jeder Fachmann durchaus nicht gelten
läßt, daß er seinerseits genau den lächerlichen Aspekt eines vorgeblich
Einmaligen bietet, wenn er seinen Laden verlassen hat und sich in einen
anderen begibt. Der ausgekochteste Bankier liebt, als sei noch nie
geliebt worden; der Postbeamte, der alle Emotionen des Schalterpublikums
kennt, fährt auf der Zahnradbahn, als sei die Zahnradbahn gerade
erfunden worden – und über allen zusammen lacht der liebe Gott weise und
leise, weil er es alles kennt, weil alles schon einmal dagewesen ist,
und weil sich die Leute auf den Bahnhöfen nun einmal so närrisch
benehmen.
(Kleine Geschichte in der Vossischen Zeitung vom 20.10.1924)
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1990-1935)
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