Sonntag, 11. Januar 2015

Erwin Rohde: Psyche – Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen

Der unmittelbaren Empfindung des Menschen scheint nichts so wenig einer Erklärung oder eines Beweises bedürftig, nichts so selbstverständlich wie die Erscheinung des Lebens, die Thatsache eines eigenen Lebens. Dagegen das Aufhören dieses so selbstverständlichen Daseins erregt, wo immer es ihm vor Augen tritt, immer aufs Neue sein Erstaunen. Es giebt Völkerstämme, denen jeder Todesfall als eine willkürliche Verkürzung des Lebens erscheint, wenn nicht durch offene Gewalt, so durch versteckte Zaubermacht herbeigeführt. So unfassbar bleibt ihnen, dass dieser Zustand des Lebens und Selbstbewusstseins von selbst aufhören könne.

Ist einmal das Nachdenken über so bedenkliche Dinge erwacht, so findet es bald das Leben, eben weil es schon an der Schwelle aller Empfindung und Erfahrung steht, nicht weniger räthselhaft als den Tod, bis in dessen Bereich keine Erfahrung führt. Es kann begegnen, dass bei allzu langem Hinblicken Licht und Dunkel ihre Stellen zu tauschen scheinen.

Ein griechischer Dichter war es, dem die Frage aufstieg: 

Wer weiss denn, ob das Leben nicht ein Sterben ist, 
und, was wir Sterben nennen, drunten Leben heisst?

Von solcher müden Weisheit und ihren Zweifeln finden wir das Griechenthum noch weit entfernt da, wo es zuerst, aber schon auf einem der Höhepuncte seiner Entwicklung, zu uns redet: in den homerischen Gedichten. Mit Lebhaftigkeit redet der Dichter, reden seine Helden von den Schmerzen und Sorgen des Lebens in seinen einzelnen Wechselfällen, ja nach seiner gesammten Anlage, denn so haben es ja die Götter beschieden den armen Menschen, in Mühsal und Leid zu leben, sie selber aber sind frei von Kummer. Aber von dem Leben im Ganzen sich abzuwenden, kommt keinem homerischen Menschen in den Sinn. Von dem Glück und der Freudigkeit des Lebens wird nur darum nicht ausdrücklich geredet, weil sich das von selbst versteht bei einem rüstigen, in aufwärts steigender Bewegung begriffenen Volke, in wenig verschlungenen Verhältnissen, in denen die Bedingungen des Glückes in Thätigkeit und Genuss dem Starken leicht zufallen. Und freilich, nur für die Starken, Klugen und Mächtigen ist diese homerische Welt eingerichtet. Leben und Dasein auf dieser Erde ist ihnen so gewiss ein Gut, als es zur Erreichung aller einzelnen Güter unentbehrliche Bedingung ist. Denn der Tod, der Zustand, der nach dem Leben folgen mag, – es ist keine Gefahr, dass man ihn mit dem Leben verwechsle. „Wolle mir doch den Tod nicht wegreden“, so würde, wie Achill im Hades dem Odysseus, der homerische Mensch jenem grübelnden Dichter antworten, wenn er ihm den Zustand nach Ablauf des Erdenlebens als das wahre Leben vorspiegeln wollte. Nichts ist dem Menschen so verhasst wie der Tod und die Thore des Hades. Denn eben das Leben, dieses liebe Leben im Sonnenlichte, ist sicher dahin mit dem Tode, mag nun folgen was will. Aber was folgt nun? Was geschieht, wenn das Leben für immer aus dem entseelten Leibe entweicht?

Befremdlich ist es, dass neuerdings hat behauptet werden können 1), es zeige sich auf irgend einer Stufe der Entwicklung homerischer Dichtung der Glaube, dass mit dem Augenblick des Todes Alles zu Ende sei, nichts den Tod überdaure. Keine Aussage in den beiden homerischen Gedichten (etwa in deren ältesten Theilen, wie man meint), auch nicht ein beredtes Stillschweigen berechtigt uns, dem Dichter und seinem Zeitalter eine solche Vorstellung zuzuschreiben. Immer wieder wird ja, wo von eingetretenem Tode berichtet worden ist, erzählt, wie der, noch immer mit seinem Namen bezeichnete Todte, oder wie dessen „Psyche“ enteile in das Haus des Aïdes, in das Reich des Aïdes und der grausen Persephoneia, in die unterirdische Finsterniss, den Erebos, oder, unbestimmter, in die
Erde versinke. Ein Nichts ist es jedenfalls nicht, was in die finstre Tiefe eingehen kann, über ein Nichts kann, sollte man denken, das Götterpaar drunten nicht herrschen.

Aber wie hat man sich diese „Psyche“ zu denken, die, bei Leibesleben unbemerkt geblieben, nun erst wenn sie „gelöst“ ist, kenntlich geworden, zu unzähligen ihresgleichen versammelt im dumpfigen Reiche des „Unsichtbaren“ (Aïdes) schwebt? Ihr Name bezeichnet sie, wie in den Sprachen vieler andrer Völker die Benennungen der „Seele“, als ein Luftartiges, Hauchartiges, im Athem des Lebenden sich kund Gebendes. Sie entweicht aus dem Munde, auch wohl aus der klaffenden Wunde des Sterbenden – und nun wird sie, frei geworden, auch wohl genannt „Abbild“ (εἴδωλον). Am Rande des Hades sieht Odysseus schweben „die Abbilder derer, die sich (im Leben) gemüht haben“. Diese Abbilder, körperlos, dem Griffe des Lebenden sich entziehend, wie ein Rauch (Il. 23, 100), wie ein Schatten (Od. 11, 207. 10, 495), müssen wohl die Umrisse des einst Lebenden kenntlich wiedergeben: ohne Weiteres erkennt Odysseus in solchen Schattenbildern seine Mutter Antikleia, den jüngst verstorbenen Elpenor, die vorangegangenen Gefährten aus dem troischen Kriege wieder. Die Psyche des Patroklos, dem Achilleus nächtlich erscheinend, gleicht dem Verstorbenen völlig an Grösse und Gestalt und am Blicke der Augen. Die Art dieses schattenhaften Ebenbildes des Menschen, das im Tode sich von diesem ablöst und schwebend enteilt, wird man am ersten verstehen, wenn man sich klar macht, welche Eigenschaften ihm nicht zukommen.

Die Psyche nach homerischer Vorstellung ist nichts, was dem irgendwie ähnlich wäre, was wir, im Gegensatz zum Körper, „Geist“ zu nennen pflegen. Alle Functionen des menschlichen „Geistes“ im weitesten Sinne, für welche es dem Dichter an mannichfachen Benennungen nicht fehlt, sind in Thätigkeit, ja sind vorhanden, nur so lange der Mensch im Leben steht.

Tritt der Tod ein, so ist der volle Mensch nicht länger beisammen: der Leib, d.i. der Leichnam, nun „unempfindliche Erde“ geworden, zerfällt, die Psyche bleibt unversehrt. Aber sie ist nun nicht etwa Bergerin des „Geistes“ und seiner Kräfte, nicht mehr als der Leichnam. Sie heisst besinnungslos, vom Geist und seinen Organen verlassen; alle Kräfte des Wollens, Empfindens, Denkens sind verschwunden mit der Auflösung des Menschen in seine Bestandtheile. Man kann so wenig der Psyche die Eigenschaften des „Geistes“ zuschreiben, dass man viel eher von einem Gegensatz zwischen Geist und Psyche des Menschen reden könnte. Der Mensch ist lebendig, seiner selbst bewusst, geistig thätig nur so lange die Psyche in ihm verweilt, aber nicht sie ist es, die durch Mittheilung ihrer eigenen Kräfte dem Menschen Leben, Bewusstsein, Willen, Erkenntnissvermögen verleiht, sondern während der Vereinigung des lebendigen Leibes mit seiner Psyche liegen alle Kräfte des Lebens und der Thätigkeit im Bereiche des Leibes, dessen Functionen sie sind. Nicht ohne Anwesenheit der Psyche kann der Leib wahrnehmen, empfinden und wollen, aber er übt diese und alle seine Thätigkeiten nicht aus durch oder vermittelst der Psyche. Nirgends schreibt Homer der Psyche solche Thätigkeit im lebendigen Menschen zu; sie wird überhaupt erst genannt, wenn ihre Scheidung vom lebendigen Menschen bevorsteht oder geschehen ist: als sein Schattenbild überdauert sie ihn und alle seine Lebenskräfte.

Fragt man nun (wie es bei unseren homerischen Psychologen üblich ist), welches, bei dieser räthselhaften Vereinigung eines lebendigen Leibes und seines Abbildes, der Psyche, der „eigentliche Mensch“ sei, so giebt Homer freilich widerspruchsvolle Antworten. Nicht selten (und gleich in den ersten Versender Ilias) wird die sichtbare Leiblichkeit des Menschen als „Er selbst“ der Psyche (welche darnach jedenfalls kein Organ, kein Theil dieser Leiblichkeit sein kann) entgegengesetzt 1). Andrerseits wird auch wohl der im Tode zum Reiche des Hades Forteilende mit dem Eigennamen des Lebenden, als „er selbst“, bezeichnet 2), dem Schattenbild der Psyche also – denn dieses allein geht doch in den Hades ein – Name und Werth der vollen Persönlichkeit, des „Selbst“ des Menschen zugestanden. Wenn man aber aus solchen Bezeichnungen geschlossen hat, entweder dass „der Leib“, oder dass vielmehr die Psyche der „eigentliche Mensch“ sei 3), so hat man in jedem Falle die eine Hälfte der Aussagen unbeachtet oder unerklärt gelassen.

Unbefangen angehört, lehren jene, einander scheinbar widersprechenden Ausdrucksweisen, dass sowohl der sichtbare Mensch (der Leib und die in ihm wirksamen Lebenskräfte) als die diesem innewohnende Psyche als das „Selbst“ des Menschen bezeichnet werden können. Der Mensch ist nach homerischer Auffassung zweimal da, in seiner wahrnehmbaren Erscheinung und in seinem unsichtbaren Abbild, welches frei wird erst im Tode. Dies und nichts anderes ist seine Psyche.

(Aus dem ersten Kapitel des 1890/94 erschienenen Werks)

ZUM TODESTAG DES PHILOLOGEN

Über den Autor (1845-1898)

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