Dienstag, 20. Januar 2015

Christoph Martin Wieland: Wer ist berechtigt, die Menschheit aufzuklären?

Wer es kann! – »Aber wer kann es?« – Ich antworte mit einer Gegenfrage, wer kann es nicht? Nun, mein Herr? da stehen wir und sehen einander an? Also, weil kein Orakel da ist, das in zweifelhaften Fällen den Ausspruch thun könnte (und wenn eines da wäre, was hälfe es uns ohne ein zweites Orakel, das uns das erste erklärte?), und weil kein menschliches Tribunal berechtigt ist, sich einer Entscheidung anzumaßen, wodurch es von seiner Willkür abhinge, uns so viel oder wenig Licht zukommen zu lassen, als ihm beliebte: so wird es doch wohl dabei bleiben müssen, daß Jedermann – von Sokrates oder Kant bis zum obscursten aller übernatürlich erleuchteten Schneider und Schuster, ohne Ausnahme, berechtigt ist, die Menschheit aufzuklären, wie er kann, sobald ihn sein guter oder böser Geist dazu treibt. Man mag nun die Sache betrachten, von welcher Seite man will, so wird sich finden, daß die menschliche Gesellschaft bei dieser Freiheit unendlichmal weniger gefährdet ist, als wenn die Beleuchtung der Köpfe und des Thuns und Lassens der Menschen als Monopol oder ausschließliche Innungssache behandelt wird. Nur wollte ich allenfalls rathen, ne quid Respublica detrimenti capiat [= dass der Staat keinen Schaden nehme] – eine höchst unschuldige Einschränkung dabei zu verfügen; und diese wäre: das sehr weise Strafgesetz der alten Kaiser des ersten und zweiten Jahrhunderts gegen die heimlichen Conventikel und geheimen Verbrüderungen zu erneuern und demzufolge Allen, die nicht berufen sind, auf Canzeln und Kathedern zu lehren, kein anderes Mittel zur beliebigen Aufklärung der Menschheit zu gestatten, als die Buchdruckerpresse. Ein Narr, der in einem Conventikel Unsinn predigt, kann in der bürgerlichen Gesellschaft Unheil anrichten; ein Buch hingegen, was auch sein Inhalt seyn mag, kann heut zu Tage keinen Schaden thun, der entweder der Rede werth wäre oder nicht gar bald zehnfältig oder hundertfältig durch Andere vergütet würde.

(Aus dem Essay 'Ein paar Goldkörner aus – oder Sechs Antworten aus sechs Fragen' in 'Der teutsche Merkur vom Jahre 1789')

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1733-1813)

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