Wer es kann! – »Aber wer kann es?« – Ich antworte mit einer Gegenfrage,
wer kann es nicht? Nun, mein Herr? da stehen wir und sehen einander an?
Also, weil kein Orakel da ist, das in zweifelhaften Fällen den Ausspruch
thun könnte (und wenn eines da wäre, was hälfe es uns ohne ein zweites
Orakel, das uns das erste erklärte?), und weil kein menschliches
Tribunal berechtigt ist, sich einer Entscheidung anzumaßen, wodurch es
von seiner Willkür abhinge, uns so viel oder wenig Licht zukommen zu
lassen, als ihm beliebte: so wird es doch wohl dabei bleiben müssen, daß
Jedermann – von Sokrates oder Kant bis zum obscursten aller
übernatürlich erleuchteten Schneider und Schuster, ohne Ausnahme,
berechtigt ist, die Menschheit aufzuklären, wie er kann, sobald ihn sein
guter oder böser Geist dazu treibt. Man mag nun die Sache betrachten,
von welcher Seite man will, so wird sich finden, daß die menschliche
Gesellschaft bei dieser Freiheit unendlichmal weniger gefährdet ist, als
wenn die Beleuchtung der Köpfe und des Thuns und Lassens der Menschen
als Monopol oder ausschließliche Innungssache behandelt wird. Nur wollte
ich allenfalls rathen, ne quid Respublica detrimenti capiat
[= dass der Staat keinen Schaden nehme] – eine höchst unschuldige Einschränkung dabei zu verfügen; und diese
wäre: das sehr weise Strafgesetz der alten Kaiser des ersten und zweiten
Jahrhunderts gegen die heimlichen Conventikel und geheimen
Verbrüderungen zu erneuern und demzufolge Allen, die nicht berufen sind,
auf Canzeln und Kathedern zu lehren, kein anderes Mittel zur beliebigen
Aufklärung der Menschheit zu gestatten, als die
Buchdruckerpresse. Ein Narr, der in einem Conventikel Unsinn predigt,
kann in der bürgerlichen Gesellschaft Unheil anrichten; ein Buch
hingegen, was auch sein Inhalt seyn mag, kann heut zu Tage keinen
Schaden thun, der entweder der Rede werth wäre oder nicht gar bald
zehnfältig oder hundertfältig durch Andere vergütet würde.
(Aus dem Essay 'Ein paar Goldkörner aus – oder Sechs Antworten aus sechs Fragen' in 'Der teutsche Merkur vom Jahre 1789')
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1733-1813)
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