I
Das gespenstische Dämmerlicht des Frühmorgens tastete
sich bereits durch die staubigen Straßen und hauchte trüb schimmernde
Nebel an die Häusermauern. Vier Uhr früh! Und immer noch war Hlavata
Ohrringle wach und ging ruhelos im Zimmer auf und ab.
Jahrzehnte
ein Fläschchen, gefüllt mit einer wasserhellen Flüssigkeit, zu besitzen,
von der man bestimmt weiß, daß sie irgendwelche geheimnisvollen
Eigenschaften hat, – zu gewissen Zeiten eingenommen, vielleicht sogar
die höchsten magischen Fähigkeiten verleihen kann, ohne daß man imstande
wäre, hinter das Geheimnis zu kommen, ist betrübend und qualvoll. Aber
plötzlich – wie mit einem Ruck – den Vorhang gelüftet zu sehen, regt auf
und zerreißt den Schlaf.
Hlavata Ohrringle hatte oft des Abends
das Fläschchen hervorgeholt, geschüttelt, gegen das Licht gehalten und
an seinem Inhalt gerochen – hatte immer und immer wieder die alten
Folianten aufgeschlagen, die nach den testamentarischen Angaben seines
Urgroßvaters Aufschlüsse geben sollten – und war jedesmal gereizt zu
Bette gegangen, ohne etwas herausgefunden zu haben. Nur eins war
seltsam, immer in solchen Nächten besuchte ihn derselbe Traum: eine
violette gebirgige Landschaft, mitten darin ein asiatisches Kloster mit
einem goldenen Dach und darauf in starrer Unbeweglichkeit eine Leiche
stehend, die ein Buch in der Hand hielt. Wenn sich dann langsam die
Deckel öffneten, wurde in chaldäischen Lettern der Satz sichtbar: "Bleib
auf deinem Weg und wanke nicht." –
Und heute endlich, endlich
nach so langem fruchtlosen Grübeln hatte Hlavata Ohrringle gefunden, und
die verbergende Hülle des Geheimnisses war vor den Augen seiner Seele
geborsten – so wie die Schale einer Nuß zerspringt, wenn Hitze auf sie
wirkt. –
Eine Stelle in einem der Traktate, die er bisher
übersehen, weil sie gleich anfangs in der Vorrede stand, gab genauen
Aufschluß: die Flüssigkeit war ein sogenanntes alchemystisches
Partikular. Also doch – ein alchemystisches Partikular! Aber die
Eigenschaften der Flüssigkeit waren kurios und anscheinend so wertlos
nach modernen Begriffen! Ein Tropfen zwischen zwei Metallspitzen
gebracht, nehme nach wenigen Minuten eine mathematisch absolut genaue
Kugelform an. – Interessant – sehr interessant, daß es also einen Stoff
gab, aus dem sich in praxi eine solch absolut genaue Form bilden ließ; –
aber was weiter, das konnte doch unmöglich alles sein?
Es war
auch nicht alles, und Hlavata Ohrringle, der ein Bücherwurm von Gottes
Gnaden war, fand gar bald in einem zweiten Folianten den wundersamen
Wert beschrieben. Wäre es möglich, hieß es dort ungefähr – eine in
geometrischem Sinne korrekte Kugelrundung herzustellen – so würden sich
Dinge darin sehen lassen, die jeden in höchstes Erstaunen versetzen
müßten. Das ganze astrale Weltall – jenes geistige Weltall, das dem
unsrigen zugrunde liegt, wie der Handlung die Absicht, wie der Tat der
Entschluß – könne sogar darin wahrgenommen werden, wenn auch zuweilen
nur in symbolischer Form. Ein Kugelauge schaue eben nach allen
erdenklichen Seiten hin bis in die entferntesten Tiefen des Weltalls und
ordne nach uns unerkennbaren Gesetzen der Oberflächenspannung alle
Spiegelbilder über- und nebeneinander.
Hlavata Ohrringle hatte
alles vorbereitet, die Metallnadeln in einen Halter geschraubt,
dazwischen den Tropfen mit unsäglicher Mühe angebracht und konnte jetzt
den Tagesanbruch kaum erwarten, um im Morgenlichte das Experiment zu
beginnen. Ungeduldig schritt er auf und nieder oder warf sich in den
Lehnstuhl, dann sah er wieder auf die Uhr: Erst viertel Fünf,
Himmelsakra!
Er blätterte im Kalender, wann eigentlich die Sonne aufgehe. Gerade heute ein Marientag – und Marientage sind so bedeutsam.
Endlich
schien es ihm hell genug; er nahm sein Vergrößerungsglas und
betrachtete den Tropfen, der glitzernd zwischen den silbernen
Nadelspitzen hing. –
Anfangs sah er nur die Spiegelbilder der
Dinge, die sein Zimmer füllten, den Schreibtisch mit der gesternten
Decke und den umhergestreuten Büchern, die weiße Kugel der Lampe und am
Fensterriegel den alten Talar – auch einen kleinen Fleck rötlichen
Himmels, wie er durch die Scheiben schimmerte. Aber bald überzog ein
dunkles Grün die Oberfläche des Tropfens und verschlang alle diese
Reflexe. – Gegenden bildeten sich aus Basaltfelsen, gähnenden Grotten
und Höhlen – phantastisch langgezogenes Gestrüpp lauerte wie zum Schlag
ausholend, und fremdartiges Baumkraut breitete durchsichtig glasgrüne
Segelblätter aus.
Selbstleuchtend die ganze Landschaft – eine Szene der Tiefsee.
Ein
länglich weißer Fleck trat hervor und wurde immer deutlicher und
plastischer: eine Wasserleiche, ein nacktes Weib mit dem Kopf nach
abwärts, die Füße an adernartiges Geflecht gefesselt, hing in dem grünen
Wasser.
Plötzlich löste sich ein farbloser Klumpen mit gestielten
Augen und scheußlichem fadenumwachsenen Maule aus den Felsenschatten
und schoß auf das Weib zu. Blitzartig folgte ihm ein zweiter.
So
rasch hatte das erste Ungeheuer der Leiche den Leib aufgerissen und war
selbst von dem anderen gespießt worden, daß Hlavata Ohrringle gar nicht
mit den Augen folgen konnte. Vor Erregung stieß er einen Seufzer aus und
beugte sich noch tiefer über seine Lupe. Doch sein Atem hatte das Bild
bereits getrübt und alsbald zerrann es gänzlich. Keine Mühe, kein
geduldiges Warten nützte, die Szene kehrte nicht zurück; und der Tropfen
spiegelte nur die blendende Sonne wieder, die sich über den Dunst der
rauchigen Häusergiebel hob.
II
Hlavata Ohrringle
war mit sorgenschwerer Miene von einem Vororte zurückgekehrt und
sammelte seine Gedanken. Er hatte dort einen alten Rosenkreuzer, einen
gewissen Eckstein, aufgesucht und um Rat gefragt. –
Eckstein,
nachdem er lange zugehört, war in die Worte ausgebrochen: "Dies ist ein
Mysterium von unerhörter Tiefe. Ich war nämlich der allererste, der den
Querschnitt solcher Wahrnehmungen in den Schriften des Kabbalisten Rabbi
Gikatilla, natürlich in verborgener Form, wieder fand. Was Basilius
Valentin in seinem Traktate 'der Triumphwagen des Antimonii', Seite 712,
darüber sagt, ist lediglich symbolisch oder analogisch, das heißt nur
dem faßlich, dessen Seele in die Tiefe der Gottheit herabgetaucht ist." –
Und wenn sich Hlavata Ohrringle für Visionen in glänzenden Gegenständen
interessiere, so sei am geeignetsten dazu eine japanische
Kristallkugel. Wohl befänden sich augenblicklich alle, die bisher nach
Europa gekommen, in den Händen eines finsteren schwarzen Magiers namens
Fahlendien, in Wien. – Die genaueste Auskunft über das gesehene Bild
könne aber jedenfalls ein in Berlin lebender irrsinniger Maler namens
Christophe geben – wenn er wolle.
All das konnte Ohrringle
natürlich nicht genügen, und er machte Tag um Tag neue Experimente mit
der Flüssigkeit. Seine Versuche blieben in der Stadt kein Geheimnis und
bildeten das Tagesgespräch. Lächerlich – so hieß es – lächerlich das
ganze; wie könne man in einem Kugelspiegel alle Dinge sehen. Die meisten Dinge lägen doch im Weltraume hintereinander, und eines mache dadurch das andere unsichtbar.
Das
schien allen sehr einleuchtend, und um so erstaunter war man, als man
in einer auswärtigen Zeitung die ganz entgegengesetzte Meinung eines
englischen Forschers las, – die dahin ging, daß es theoretisch gar wohl
möglich sei, sogar durch Mauern und verschlossene Kasten hindurch zu
sehen; man möge doch nur an die Röntgenstrahlen denken – gegen welche z.
B. bloß Bleiplatten Schutz gewährten.
Jeder Gegenstand auf
der Welt sei im Grunde genommen doch nichts anderes, so zu sagen, als
ein feines Sieb aus wirbelnden Atomen gebildet, und wenn man die
richtige Strahlenart fände, gäbe es eben auch kein Hindernis für seine
Durchleuchtung.
Dieser Zeitungsartikel rief besonders in
behördlichen Kreisen Erregung hervor. – Ganz eigentümliche
"Reservaterlässe" sickerten ins Publikum: – von den Diplomaten seien z.
B. Befehle an die Attachés ergangen, daß sämtliche Akten –
augenblicklich in Bleikassetten zu versperren seien; es werde
ferner eine gründliche Reorganisation auch der Provinzpolizei ins Auge
gefaßt, – ja man sei zur Hebung der "Geheimpolizei" bereits mit Rußland
in Verbindung getreten, um von dort eine Menge Bluthunde – im Tausche
gegen überzählige Schweinehunde des Inlandes – einzuführen; – und
dergleichen mehr.
Natürlich wurde Hlavata Ohrringle streng
überwacht, – um so strenger, je zufriedener er auf seinen Spaziergängen
aussah; und als er eines Tages mit geradezu strahlender Miene auf der
Esplanade erschien, – beschloß man behördlicherseits, auf das
rücksichtsloseste vorzugehen, zumal man gar wohl in Erfahrung gebracht, –
daß er immer nur lächle, wenn von Diplomaten die Rede sei, ja sogar
einmal – befragt, was er von der Kunst der Diplomatie halte –
geantwortet habe: kein Schwindel könne sich auf die Dauer halten.
Und
eines Tages – es war wieder ein Marientag – wurde Hlavata Ohrringle –
gerade als er bei seinem geheimnisvollen Tropfen saß – verhaftet und
unter der Anschuldigung des mehrfachen Muttermordes in Gewahrsam
gesteckt.
Die seltsame Flüssigkeit aber wurde eingezogen und zur Prüfung den Gerichtschemikern überwiesen.
Man
kann darüber nur hoch erfreut sein, denn fraglos muß jetzt die Wahrheit
über die Diplomaten voll und ganz ans Tageslicht kommen.
– Ehüm – ans Tageslicht kommen. –
(Aus der 1913 erschienenen Novellensammlung 'Des deutschen Spießers Wunderhorn')
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1868-1932)
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