Sonntag, 25. Januar 2015

Joseph Görres: Rheinischer Merkur

Es hat im Laufe dieser Zeiten ein Ereignis sich ergeben, das überraschend, bewundernswürdig, ja erstaunlich die Gestalt der Welt und das Schicksal des Geschlechts auf viele Menschenalter begründen wird. Das teutsche Volk, durch Dünkel, Habsucht, Neid und Unverstand längst schon tausendfältig in sich selbst entzweit, durch Trägheit und Erschlaffung aufgelöst und darum einem übermütigen Feinde von der Vorsicht preisgegeben, der alle Gewalttätigkeit seiner Revolution zu ihm hinübertrug; dies Volk, gedemütigt, gedrückt, unter die Füße getreten, verspottet und gehöhnt, entwaffnet oder gegen sich selbst zum Streite angehetzt, hat wie ein gebundener Riese mit einem sich erhoben, und alle Ketten sind wie eine böse Verblendung von ihm abgefallen, und die ihn plagten, sind vergangen, wie üble Träume mit dem Licht des Morgens. Und nun, da der Arm des Bösen, der so schwer auf ihm gelegen, zerbrochen ist, gibt sich erst kund, welch unversiegliche Quelle alles Guten in diesem Volke fließt, und wie die Feinde, die alles ihm geraubt, den alten Schatz der Treue, des Mutes und der Vaterlandsliebe nicht ihm rauben können. Durch alle Völkerschaften, die den Boden des alten Germaniens bedecken, geht ein Geist freudiger Entsagung und mutigen Zusammenhaltens, eine schöne Begeisterung glüht in aller Herzen, statt der vorigen dumpfen Betäubung ist eine muntere Regsamkeit eingetreten, eine klare Anschauung der Weltverhältnisse nimmt die Stelle kläglichen Unverstandes ein, das Talent, das wie versiegt schien in flacher Erbärmlichkeit, hat in allen Fächern sich hervorgetan, und ein edler Gemeingeist, der den Teutschen so fremd geworden, umschlingt, wie jene Kette den Heerhaufen der Teutonen, so den großen Bund mit festem Band. Die Folgen dieser Erhebung einer starken Nation sind schon in die Weltgeschichte aufgenommen; die Schlacht bei Leipzig hat ihresgleichen nicht an Wichtigkeit, seit jener auf den Katalaunischen Feldern, und seit dem großen Bunde der Germanier gegen die römische Oberherrschaft hat Teutschland nie so eins in sich, so wehrhaft, so gründlich stark und unüberwindlich dagestanden. Offenbar sind die Teutschen das Organ geworden, in dem die Geschichte weiterwirkt; über den Heeren der Verbündeten schwebt, jedem Auge sichtbar, die ewige Vergeltung und mißt jedem mit dem Maße ein, womit er ausgemessen; durch ihre Siege haben die Fügungen der Vorsehung sich kundgegeben, die nicht dem Zufalle preisgibt die Ereignisse, daß die Lüge herrsche und die Schlechtigkeit, sondern die nach Maß und Recht zügelt jede freche Gewalt und alles zum Guten lenkt. Und das ist das erfreulichste von allem, daß die Rechtlichkeit der Nation nach so arger Mißhandlung und so glänzenden Siegen sich kundgibt in jener Mäßigung der Führer des Bundes, die dem niedergeworfenen Feinde nicht Mißhandlung, Knechtschaft und Schande bietet und dadurch die gerechte Nemesis wieder gegen sich selbst bewaffnet, sondern in ehrenvollem Frieden ebensosehr sein Glück wie das eigene begründen will. Dies schöne Maß, das die Deutschen ihrer großen, frei gemachten Kraft gegeben, verbürgt ihnen mit Sicherheit den schönen Ausgang des Kampfes, der nun seinem Ende naht. Die Begeisterung aber, die sich in der Nation geregt, und die noch lange nachglühen wird, wenn der Streit beider Völker längst beigelegt, wird, während sie ihre künftige äußere Sicherheit begründet, jeglichem Guten Bahn machen, das ein Volk beglücken mag, und das Jahrhundert, das so viele Schmach gesehen, kann leicht in seinem Verlaufe die besten Zeiten Altteutschlands wiederkehren sehen.

(Aus dem Editorial der ersten Ausgabe des Blattes vom 23. Januar 1814)

ZUM GEBURTSTAG DES PUBLIZISTEN

Über den Autor (1776-1848)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen