Alljährlich – wenn der Frühling kommt und die Luft sich wieder
bevölkert mit unzähligen frohen Geschöpfen; wenn die Störche, zu ihren
alten nordischen Wohnsitzen zurückgekehrt, ihren stattlichen
Flugapparat, der sie schon viele Tausende von Meilen weit getragen,
zusammenfalten, den Kopf auf den Rücken legen und durch ein
Freudengeklapper ihre Ankunft anzeigen; wenn die Schwalben ihren Einzug
gehalten und wieder in segelndem Fluge Straße auf und Straße ab mit
glattem Flügelschlag an unseren Häusern entlang und an unseren Fenstern
vorbei eilen; wenn die Lerche als Punkt im Äther steht und mit lautem
Jubelgesang ihre Freude am Dasein verkündet – dann ergreift auch den
Menschen eine gewisse Sehnsucht, sich hinaufzuschwingen und frei wie
der Vogel über lachende Gefilde, schattige Wälder und spiegelnde Seen
dahinzugleiten und die Landschaft so voll und ganz zu genießen, wie es
sonst nur der Vogel vermag. / Wer hätte wenigstens um diese Zeit niemals bedauert, dass der
Mensch bis jetzt der Kunst des freien Fliegens entbehren muss und nicht
auch wie der Vogel wirkungsvoll seine Schwingen entfalten kann, um
seiner Wanderlust den höchsten Ausdruck zu verleihen? / Sollen wir denn diese Kunst immer noch nicht die unsere nennen
und nur begeistert aufschauen zu niederen Wesen, die dort oben im
blauen Äther ihre schönen Kreise ziehen? / Soll dieses schmerzliche Bewusstsein durch die traurige
Gewissheit noch vermehrt werden, dass es uns nie und nimmer gelingen wird,
dem Vogel seine Fliegekunst abzulauschen? Oder wird es in der Macht des
menschlichen Verstandes liegen, jene Mittel zu ergründen, welche uns zu
ersetzen vermögen, was die Natur uns versagte? / Bewiesen ist bis jetzt weder das eine noch das andere, aber wir
nehmen mit Genugtuung wahr, dass die Zahl derjenigen Männer stetig
wächst, welche es sich zur ernsten Aufgabe gemacht haben, mehr Licht
über dieses noch so dunkle Gebiet unseres Wissens zu verbreiten. / Die Beobachtung der Natur ist es, welche immer und immer wieder
dem Gedanken Nahrung gibt: "Es kann und darf die Fliegekunst nicht für
ewig dem Menschen versagt sein." / Wer Gelegenheit hatte, seine Naturbeobachtung auch auf jene
großen Vögel auszudehnen, welche mit langsamen Flügelschlägen und oft
mit nur ausgebreiteten Schwingen segelnd das Luftreich durchmessen, wem
es gar vergönnt war, die großen Flieger des hohen Meeres aus
unmittelbarer Nähe bei ihrem Fluge zu betrachten, sich an der Schönheit
und Vollendung ihrer Bewegungen zu weiden, über die Sicherheit in der
Wirkung ihres Flugapparates zu staunen, wer endlich aus der Ruhe dieser
Bewegungen die mäßige Anstrengung zu erkennen und aus der helfenden
Wirkung des Windes auf den für solches Fliegen erforderlichen geringen
Kraftaufwand zu schließen vermag, der wird auch die Zeit nicht mehr fern
wähnen, wo unsere Erkenntnis die nötige Reife erlangt haben wird, auch
jene Vorgänge richtig zu erklären, und dadurch den Bann zu brechen,
welcher uns bis jetzt hinderte, auch nur ein einziges Mal zu freiem
Fluge unseren Fuß von der Erde zu lösen. / Aber nicht unser Wunsch allein soll es sein, den Vögeln ihre
Kunst abzulauschen, nein, unsere Pflicht ist es, nicht eher zu ruhen,
als bis wir die volle wissenschaftliche Klarheit über die Vorgänge des
Fliegens erlangt haben. Sei es nun, dass aus ihr der Nachweis hervorgehe:
"Es wird uns nimmer gelingen, unsere Verkehrsstraße zur freien
willkürlichen Bewegung in die Luft zu verlegen", oder dass wir an der
Hand des Erforschten tatsächlich dasjenige künstlich ausführen lernen,
was uns die Natur im Vogelfluge täglich vor Augen führt. / So wollen wir denn redlich bemüht sein, wie es die Wissenschaft
erheischt, ohne alle Voreingenommenheit zu untersuchen, was der
Vogelflug ist, wie er vor sich geht, und welche Schlüsse sich aus ihm
ziehen lassen.
(Einleitung des 1889 erschienenen Werks)
ZUM TODESTAG DES LUFTFAHRTPIONIERS
Über den Autor (1848-1896)
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