Montag, 4. August 2014

Rudolf G. Binding: Der Opfergang

Und dann ging diese stolze Frau in ihrem Leid jener frohen auf ihrem Wege nach, als werde sie ihr das Geheimnis ihrer Macht entlocken können, bei ihr heimlich in die Schule gehen dürfen zum Erlernen einer ihr fremden Kunst. Sie brauchte nicht ängstlich zu sein, entdeckt noch aufgehalten zu werden, denn Joie wandte sich nicht um, und ein tieferes Neigen ihres Hauptes unter dem breitrandigen Gartenhut verbarg Octavias Gesicht erkennenden Blicken. Als sie auf der Fährte ihres seltsamen Wildes war, hörte ihr Zaudern auf und sie verwandte kein Auge von der sorglos vor ihr dahineilenden Gestalt. Das Ziel ihres Ganges schien sie vergessen zu haben und kein anderes Begehren erfüllte sie, als jener zu folgen. / So gingen sie lange. Ab und zu bemerkte Octavia, daß ein Kind, welches Joie wohl im Vorbeieilen angeblickt hatte, dieser zulachte; wenn sie aber dann selbst das Kind mit einem Blick streifte, wurden die lachenden Züge ernst. Es geschah auch wohl, daß ein Mann sich umwandte, um ihrem Wilde nachzuschauen; dann sah sie, daß auch in dieses Mannes Gesicht ein Lachen war, ähnlich dem des Kindes. Ihr aber, so schön sie war, blickte keiner nach. / Joie hatte den Hafen erreicht, von dem aus sie irgendein Ziel zu suchen schien. Octavia war wohl selten an diesem Ort gewesen, wo alles in einen Rauch von Lärm gehüllt war, wo ein Gestöhn aus eisernen Rippen und das Geheul aus eisernen Mäulern ihr entgegengellte, wo unbarmherzig Mast bei Mast ragte und den Rahen nicht die Luft gönnte, wo schwarze Riesenleiber nach schwarzer Nahrung brüllten, welche Menschenknechte in ihren Schlund schaufelten, wo das Wasser schmutzig war von wühlenden Kielen und der Himmel in einem braunen Qualm unterzugehen schien. Das alles verlegte ihr gleichsam den Weg. Joie indessen sprang leichtfüßig über schwere Ringe und sich spannende Taue, und auf einer der hohen gemauerten Landungsrampen, die eben durch die Ausfahrt eines Kolosses frei lag, trat sie nahe an das Wasser und schaute eine Weile hinab. Unzählige Möwen kreischten gierig über der bewegten Fläche, erhoben sich aus ihr und fielen in sie zurück. Sie freute sich an ihrem gewandten Flug und dachte ihnen in einem plötzlichen Einfall eine ihrer Zärtlichkeiten zu. Suchend schaute sie sich um, und da sie in einiger Entfernung eine seßhafte Hökerin gewahrte, die für die Hafenarbeiter einfaches Backwerk feilhielt, kaufte sie rasch ein paar Stück und zog ihre langen Handschuhe ab, um das Brot zu Futterbrocken zu zerkleinern. Dann stellte sie sich von neuem an den Rand, und indem sie aus ihren Händen zwei zierliche, lebendige Futtertröglein machte, erhob sie sie lächelnd mit den Brocken gefüllt bis zur Höhe ihrer Schultern. Da war sie im Nu von Schwärmen schwebender Möwen umflattert, die im gleitenden Flug einen Augenblick vor den freundlichen Trögen stillstanden und behutsam und sicher, ohne auch nur einen Finger mit Schnäbeln, Krallen oder Flügeln zu berühren, einen Brocken nach dem anderen herauspickten. So stand sie in einem wundervollen, starken, wehenden Fächerspiel, das sie wie eine Liebkosung entgegennahm. Als ihr Vorrat zu Ende war, schien sie mit einer leichten Bewegung den sie noch immer umkreisenden Vögeln wie für eine Huldigung zu danken. / Octavia schaute voll Bewunderung und zugleich in einer kleinen Angst, daß dennoch den schlanken gebräunten Fingern Joies von den kurz umgebogenen Schnabelspitzen eine Verletzung drohe, auf dieses neue Schauspiel. Aber als ob sie durch dieses an das der vergangenen Nacht gemahnt worden wäre, fühlte sie wieder, warum sie jener Frau gefolgt war, und Mut- und Hoffnungslosigkeit befiel sie von neuem. In sich selbst verdunkelt, sah sie nur helle Flügel von kreisenden Vögeln und verharrte so eine Weile in einem halben Traum. Als sie sich wie mit einer Anstrengung von ihm losmachte und Joie suchte, sah sie sie nur in der Ferne in eine Seitenstraße biegen. Sie hatte genug der Verfolgung. Aber in einer seltsamen Anwandlung ihr nachzutun, trat sie zu der seßhaften Hökerin und kaufte wie Joie ihr einige Stück zum Futter der Möwen ab. Sie hatte sie zerkleinert und hielt nun zaghaft und zitternd, wie vor einem Gottesurteil, ihre gefüllten Hände empor. Aber keiner der Vögel nahm etwas daraus. Wohl nahten sie alle; doch wie vor einer unsichtbaren Wand, die ihnen wehrte, machten sie alle in einer gewissen Entfernung wieder kehrt, sooft sie auch heranprallten. Octavia wünschte sie herbei und doch schauderte sie, daß sie ihr näher kommen sollten. Da kehrte sie traurig ihre verschmähten Hände um und leerte sie ins Wasser. Die Brocken hatten noch nicht die Fläche berührt, so waren sie verschlungen.

(Aus der 1912 erschienenen Novelle)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1867-1938)

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