Überblickt man die Gesamtentwicklung der Kultur, so ist unzweideutig ein zwischen manchen Neben- und Abwegen
sich bewegendes, aber im letzten Grunde durchaus einheitlich als auf ihr
letztes Ziel gerichtetes Streben zu erkennen, das auf die Unterwerfung
der Natur unter den Willen des Menschen, auf ihre Umwandlung in ein
Werkzeug für seine Zwecke ausgeht, die mit den materiellen Zwecken des
Lebens beginnen, um mit ihrer Hilfe sich zu den höchsten geistigen
Gütern zu erheben. Gerade diese aber bewähren sich in dieser Entwicklung
als die höchsten und letzten, weil sie allein die bleibenden sind,
diejenigen, in denen die gesamte geistige Kultur der Vergangenheit noch
in uns lebendig ist und über uns hinaus in alle Zukunft, soweit das
Dasein der Menschheit reicht, lebendig bleiben wird, während ihnen
gegenüber die materiellen Gestaltungen des Lebens einem fortwährenden,
von den mannigfaltigsten Nebeneinflüssen bestimmten Wechsel unterworfen
sind. Es kann niemals die Aufgabe eines einzelnen oder auch nur eines
einzelnen Volkes sein, an dieser großen Kulturmission, wie sie uns die
Entwicklungsgeschichte der Kultur offenbart, Nennenswertes
mitzuarbeiten, ohne dass sie selbst aller der Vorbedingungen teilhaftig
sind, die die vorangegangene Kultur des eigenen Volkes und dann
weiterhin die allgemeine Stufe, die die menschliche Kultur erreicht hat,
ihnen bieten. Gerade im Hinblick auf den Wert, den in dieser
Zusammenarbeit die einzelne Persönlichkeit für das Ganze besitzt, dem
sie angehört, gewinnt aber jener platonische Satz, dass die Gemeinschaft
früher sei als der einzelne, seine richtige Bedeutung. Bildet doch seine
Kehrseite der andere, daß es keine Gemeinschaft gibt ohne die einzelnen
und ihr Zusammenwirken in dem Ganzen, dem sie zugehören. / Das einleuchtendste Zeugnis für diesen geistigen Zusammenhang der Einzelpersönlichkeit mit der Gemeinschaft,
aus der sie entsprungen ist und an der sie fortan durch ihr Leben und
Wirken teilnimmt, liefert uns die Grundfunktion des menschlichen
Geistes, die Sprache. Sie bezeichnet am augenfälligsten die Grenzen,
innerhalb deren sich zunächst das geistige Leben einer Gemeinschaft
bewegt, und daneben die Abhängigkeit, in der überall der einzelne von
dieser Gemeinschaft steht, sowie die Macht, mit der er wieder auf sie
zurückwirkt; und sie lehrt uns zugleich in ihrer Geschichte die
geistigen Wandlungen kennen, die die Kultur dieser Gemeinschaft samt den
Wechselwirkungen, in die sie mit andern Völkern getreten, durchlebt
hat. Weitere Kreise, innerhalb deren die einzelne Nation nur ein Glied
bildet in einem umfassenderen Völkerverkehr, ziehen die Religion und die
Kunst, die weitesten endlich die Wissenschaft, die erst im
eigentlichsten Sinne diejenige Stufe erreicht, die wir eine
internationale zu nennen berechtigt sind. In allen diesen Kreisen des
gemeinsamen Lebens hat aber der einzelne je nach der Arbeit, die er für
das Ganze und damit für sich selber leistet, seinen Wert.
(Aus dem Schlusskapitel der 1921 postum erschienenen Autobiographie)
ZUM GEBURTSTAG DES PSYCHOLOGEN
Über den Autor (1832-1920)
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