Samstag, 16. August 2014

Wilhelm Wundt: Erlebtes und Erkanntes

Überblickt man die Gesamtentwicklung der Kultur, so ist unzweideutig ein zwischen manchen Neben- und Abwegen sich bewegendes, aber im letzten Grunde durchaus einheitlich als auf ihr letztes Ziel gerichtetes Streben zu erkennen, das auf die Unterwerfung der Natur unter den Willen des Menschen, auf ihre Umwandlung in ein Werkzeug für seine Zwecke ausgeht, die mit den materiellen Zwecken des Lebens beginnen, um mit ihrer Hilfe sich zu den höchsten geistigen Gütern zu erheben. Gerade diese aber bewähren sich in dieser Entwicklung als die höchsten und letzten, weil sie allein die bleibenden sind, diejenigen, in denen die gesamte geistige Kultur der Vergangenheit noch in uns lebendig ist und über uns hinaus in alle Zukunft, soweit das Dasein der Menschheit reicht, lebendig bleiben wird, während ihnen gegenüber die materiellen Gestaltungen des Lebens einem fortwährenden, von den mannigfaltigsten Nebeneinflüssen bestimmten Wechsel unterworfen sind. Es kann niemals die Aufgabe eines einzelnen oder auch nur eines einzelnen Volkes sein, an dieser großen Kulturmission, wie sie uns die Entwicklungsgeschichte der Kultur offenbart, Nennenswertes mitzuarbeiten, ohne dass sie selbst aller der Vorbedingungen teilhaftig sind, die die vorangegangene Kultur des eigenen Volkes und dann weiterhin die allgemeine Stufe, die die menschliche Kultur erreicht hat, ihnen bieten. Gerade im Hinblick auf den Wert, den in dieser Zusammenarbeit die einzelne Persönlichkeit für das Ganze besitzt, dem sie angehört, gewinnt aber jener platonische Satz, dass die Gemeinschaft früher sei als der einzelne, seine richtige Bedeutung. Bildet doch seine Kehrseite der andere, daß es keine Gemeinschaft gibt ohne die einzelnen und ihr Zusammenwirken in dem Ganzen, dem sie zugehören. / Das einleuchtendste Zeugnis für diesen geistigen Zusammenhang der Einzelpersönlichkeit mit der Gemeinschaft, aus der sie entsprungen ist und an der sie fortan durch ihr Leben und Wirken teilnimmt, liefert uns die Grundfunktion des menschlichen Geistes, die Sprache. Sie bezeichnet am augenfälligsten die Grenzen, innerhalb deren sich zunächst das geistige Leben einer Gemeinschaft bewegt, und daneben die Abhängigkeit, in der überall der einzelne von dieser Gemeinschaft steht, sowie die Macht, mit der er wieder auf sie zurückwirkt; und sie lehrt uns zugleich in ihrer Geschichte die geistigen Wandlungen kennen, die die Kultur dieser Gemeinschaft samt den Wechselwirkungen, in die sie mit andern Völkern getreten, durchlebt hat. Weitere Kreise, innerhalb deren die einzelne Nation nur ein Glied bildet in einem umfassenderen Völkerverkehr, ziehen die Religion und die Kunst, die weitesten endlich die Wissenschaft, die erst im eigentlichsten Sinne diejenige Stufe erreicht, die wir eine internationale zu nennen berechtigt sind. In allen diesen Kreisen des gemeinsamen Lebens hat aber der einzelne je nach der Arbeit, die er für das Ganze und damit für sich selber leistet, seinen Wert.

(Aus dem Schlusskapitel der 1921 postum erschienenen Autobiographie)

ZUM GEBURTSTAG DES PSYCHOLOGEN

Über den Autor (1832-1920)

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