Sonntag, 3. August 2014

Dorothea Schlegel: Florentin

Es war an einem der ersten schönen Frühlingsmorgen. Allenthalben, auf Feldern, auf Wiesen und im Wald, waren noch Spuren des vergangnen Winters sichtbar, und der Härte, womit er lange gewütet; noch einmal hatte er mächtig im Sturm seine Schwingen geschüttelt, aber es war zum letztenmal. Die Wolken waren vertrieben vom Sturm, die Sonne durchgebrochen, und eine laue milde Wärme durchströmte die Luft. Junge Grasspitzen drängten sich hervor, Veilchen und süße Schlüsselblumen erhoben furchtsam ihre Köpfchen, die Erde war der Fesseln entledigt und feierte ihren Vermählungstag. / Mutig trabte ein Reisender den Hügel herauf. Vertieft im Genuss der ihn umgebenden Herrlichkeit und in Phantasien, die ihn bald vor-, bald rückwärts rissen, hatte er den rechten Weg verfehlt, und nun sah er sich auf einmal vor einem Walde, den er durchreiten musste, wenn er nicht gerade wieder umkehren und zurückreiten wollte; ein andrer Weg war nicht zu finden. Er war lange zweifelhaft. / "Jetzt wieder umkehren wäre ein unnützes Stück Arbeit. Wäre ich etwa umsonst hierher geraten? In diesen Wald kam ich ungefähr auf eben die Weise wie ins Leben ... wahrscheinlich habe ich im ganzen auch des Weges verfehlt. Und wie? wenn mir auch hier wie dort die Rückkehr unmöglich wäre? ... Sei meine Reise wie mein Leben und wie die ganze Natur, unaufhaltsam vorwärts! ... Was mir nur begegnen wird auf dieser Lebensreise oder diesem Reiseleben? ... Ich rühme mich, ein freier Mensch zu sein, und dieser Sonnenschein, dieses laue Umfangen, die jungen Knospen, das Erwarten der Dinge, die mich umgeben, ist schuld, dass auch ich erwarte ... und was? ... War ich doch mit allem bunten Spielzeug schon längst Hoffnung und Erwartung entflohen! ... Närrisch genug wäre es, wenn mich dieser Weg auch endlich an den rechten Ort führte, wie alles Leben zum unvermeidlichen Ziel."

(Anfang des 1801 anonym erschienenen Romans)

ZUM TODESTAG DER SCHRIFTSTELLERIN

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