Mittwoch, 20. August 2014

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe

Ich lebe und webe gegenwärtig in der Philosophie. Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen? – Ein Kant wohl, aber was soll der große Haufe damit? Fichte, als er das letzte Mal hier war, sagte, man müsse den Genius des Sokrates haben, um in Kant einzudringen. Ich finde es täglich wahrer. – Wir müssen noch weiter mit der Philosophie! – Kant hat Alles weggeräumt, – aber wie sollten sie's merken? Vor ihren Augen muss man es in Stücke zertrümmern, dass sie's mit Händen greifen! O der großen Kantianer, die es jetzt überall gibt! Sie sind am Buchstaben stehen geblieben und segnen sich, noch so viel vor sich zu sehen. Ich bin fest überzeugt, dass der alte Aberglaube nicht nur der positiven, sondern auch der sogenannten natürlichen Religion in den Köpfen der meisten schon wieder mit den kantischen Buchstaben kombiniert ist. – Es ist eine Lust anzusehen, wie sie den moralischen [Gottes-]Beweis an der Schnur zu ziehen wissen. Eh' man sich's versieht, springt der deus ex machina hervor, – das persönliche individuelle Wesen, das da oben im Himmel sitzt! – / Fichte wird die Philosophie auf eine Höhe heben, vor der selbst die meisten der bisherigen Kantianer schwindeln werden.

(Aus dem am 6. Januar 1795 geschriebenen Tübinger Brief des 19-jährigen Studenten an seinen ehemaligen Kommilitonen Hegel)

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1775-1854)

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