Samstag, 6. September 2014

Moses Mendelssohn: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften

Die schwerste und fast unmögliche Verbindung der Künste ist, wann Künste, welche Schönheiten in der Folge nebeneinander vorstellen, mit Künsten, welche Schönheiten in der Folge aufeinander vorstellen, vereinigt werden sollen. Dieses Geheimnis hat sich die Natur fast allein vorbehalten. Sie verbindet, in ihrem unermesslichen Plan, die Schönheiten der Töne, Farben, Bewegungen und Figuren durch unendliche Zeiten und grenzenlose Räume in der vollkommensten Harmonie. Die menschliche Kunst hingegen kann die Malerei, Bildhauer- und Baukunst mit der Musik und Tanzkunst nur uneigentlich, und zwar vermittelst der Decoration, vereinigen. Man kann nämlich in einer Oper, nach einer bekannten Fabel, eine ganze Stadt, oder ein schönes Gebäude, durch die Zauberkraft der Harmonie entstehen lassen, oder die Tänzer als unbewegliche Bildsäulen hinstellen, und durch die Musik nach und nach belebt, ihre ersten Empfindungen in freudigen Bewegungen ausdrücken lassen. Wer sieht aber nicht, dass diese nicht anders als Verbindungen im uneigentlichen Verstande genannt werden können? / Wir müssen indessen von dieser allgemeinen Maxime eine Ausnahme machen. Die Musik verbindet wirklich die Harmonie mit der Melodie, da doch jene die Schönheiten in der Folge nebeneinander, diese aber in der Folge aufeinander vorstellt. Allein der Grund von dieser Ausnahme ist leicht zu finden. Die Töne in der Harmonie werden in keinem Raume nebeneinander geordnet, daher fallen sie ineinander, und wir empfinden gleichsam nicht mehr als einen einzigen zusammengesetzten Ton. Dieser kann nun in der Folge nach einer schönen Ordnung abwechseln. Wo aber die Schönheiten nebeneinander in einem Raume geordnet werden müssen, als in der Malerei, Bildhauer- und Baukunst, da können sie schwerlich in der Folge ohne Verwirrung abgeändert werden. Die Figur des Raumes selbst, den die Teile nebeneinander einnehmen, müsste in der Folge nach einer schönen Ordnung abgewechselt werden, und man wird schwerlich ein Mittel finden, verschiedene Figuren in der Folge aufeinander nach den Gesetzen der Schönheit zu verbinden.

(Aus dem 1755 erstmals gedruckten Aufsatz)

ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1729-1786)

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