Dienstag, 30. September 2014

Franz Oppenheimer: Der Staat

Wir haben die Entwicklung des Staates in ihren Hauptzügen aufzudecken versucht von der fernsten Vergangenheit bis zur Gegenwart, dem Erdforscher ähnlich, der einen Strom von seinen Quellen abwärts verfolgt bis zum Austritt in die Ebene. Breit und gewaltig rollt er seine Wogen an ihm vorbei, bis er im Dunst des Horizontes verschwindet ins Unbekannte, noch nicht Erforschte, für ihn Unerforschliche.

Breit und gewaltig rollt auch der Strom der Geschichte - und alle Geschichte bis heute ist Staatengeschichte - an uns vorbei, und sein Lauf entschwindet uns in den Nebeln der Zukunft. Dürfen wir es wagen, Vermutungen über seinen ferneren Lauf anzustellen, bis er, »dem erwartenden Erzeuger freudebrausend an das Herz« sinkt? Ist eine wissenschaftlich begründete Prognose der künftigen Staatsentwicklung möglich?

Ich glaube, daß sie möglich ist. Die Tendenz der Entwicklung des Staates führt unverkennbar dazu, ihn seinem Wesen nach aufzuheben: er wird aufhören, das »entfaltete politische Mittel« zu sein, und wird »Freibürgerschaft« werden. Das heißt: die äußere Form wird im wesentlichen die vom Verfassungsstaate ausgebildete bleiben, die Verwaltung durch ein Beamtentum: aber der Inhalt des bisherigen Staatslebens wird verschwunden sein; die wirtschaftliche Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Und da es somit weder Klassen noch Klasseninteressen mehr geben wird, wird die Bürokratie des Staates der Zukunft jenes Ideal des unparteiischen Wahrers des Gemeininteresses wirklich erreicht haben, dem die heutige sich mühsam anzunähern versucht. Der »Staat« der Zukunft wird die durch Selbstverwaltung geleitete »Gesellschaft« sein.

Man hat Bibliotheken geschrieben über die Abgrenzung der Begriffe Staat und Gesellschaft. Von unserem Standpunkt aus läßt sich das Problem leicht beantworten. Der »Staat« ist der Inbegriff aller durch das politische, die »Gesellschaft« der Inbegriff aller durch das ökonomische Mittel geknüpften Beziehungen von Mensch zu Mensch. Bisher waren Staat und Gesellschaft in eins verschlungen: in der »Freibürgerschaft« wird es keinen »Staat«, nur noch »Gesellschaft« geben.

Diese Prognose der Staatsentwicklung ist eine Ineinsfassung aller der berühmten Formeln, in denen die großen Geschichtsphilosophen das »Wertresultat« der Weltgeschichte zu geben versuchten. Sie enthält den »Fortschritt von kriegerischer Tätigkeit zur friedlichen Arbeit« Saint-Simons ebenso wie die »Entwicklung von der Unfreiheit zur Freiheit« Hegels; die »Entfaltung der Humanität« Herders ebenso wie das »Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur« Schleiermachers.

(Aus dem Schlusskapitel der erstmals 1909 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES SOZIOLOGEN

Über den Autor (1864-1943)

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