Wir haben die
Entwicklung des Staates in ihren Hauptzügen aufzudecken versucht von der
fernsten Vergangenheit bis zur Gegenwart, dem Erdforscher ähnlich, der
einen Strom von seinen Quellen abwärts verfolgt bis zum Austritt in die
Ebene. Breit und gewaltig rollt er seine Wogen an ihm vorbei, bis er im Dunst
des Horizontes verschwindet ins Unbekannte, noch nicht Erforschte, für
ihn Unerforschliche.
Breit und gewaltig rollt
auch der Strom der Geschichte - und alle Geschichte bis heute ist Staatengeschichte
- an uns vorbei, und sein Lauf entschwindet uns in den Nebeln der Zukunft. Dürfen
wir es wagen, Vermutungen über seinen ferneren Lauf anzustellen, bis er,
»dem erwartenden Erzeuger freudebrausend an das Herz« sinkt? Ist
eine wissenschaftlich begründete Prognose der künftigen Staatsentwicklung
möglich?
Ich glaube, daß
sie möglich ist. Die Tendenz der Entwicklung des Staates führt
unverkennbar dazu, ihn seinem Wesen nach aufzuheben: er wird aufhören,
das »entfaltete politische Mittel« zu sein, und wird »Freibürgerschaft«
werden. Das heißt: die äußere Form wird im wesentlichen die
vom Verfassungsstaate ausgebildete bleiben, die Verwaltung durch ein Beamtentum:
aber der Inhalt des bisherigen Staatslebens wird verschwunden sein; die wirtschaftliche
Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Und da es somit weder Klassen noch
Klasseninteressen mehr geben wird, wird die Bürokratie des Staates der Zukunft
jenes Ideal des unparteiischen Wahrers des Gemeininteresses wirklich erreicht
haben, dem die heutige sich mühsam anzunähern versucht. Der »Staat«
der Zukunft wird die durch Selbstverwaltung geleitete »Gesellschaft«
sein.
Man hat Bibliotheken
geschrieben über die Abgrenzung der Begriffe Staat und Gesellschaft. Von
unserem Standpunkt aus läßt sich das Problem leicht beantworten.
Der »Staat« ist der Inbegriff aller durch das politische, die »Gesellschaft«
der Inbegriff aller durch das ökonomische Mittel geknüpften Beziehungen
von Mensch zu Mensch. Bisher waren Staat und Gesellschaft in eins verschlungen:
in der »Freibürgerschaft« wird es keinen »Staat«,
nur noch »Gesellschaft« geben.
Diese Prognose der Staatsentwicklung
ist eine Ineinsfassung aller der berühmten Formeln, in denen die großen
Geschichtsphilosophen das »Wertresultat« der Weltgeschichte zu geben
versuchten. Sie enthält den »Fortschritt von kriegerischer Tätigkeit
zur friedlichen Arbeit« Saint-Simons ebenso wie die »Entwicklung von
der Unfreiheit zur Freiheit« Hegels; die »Entfaltung der Humanität«
Herders ebenso wie das »Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur«
Schleiermachers.
(Aus dem Schlusskapitel der erstmals 1909 erschienenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES SOZIOLOGEN
Über den Autor (1864-1943)
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