Dienstag, 9. September 2014

Clemens Brentano: Rückblick

Ich wohnte unter vielen, vielen Leuten,
Und sah sie alle tot und stille stehn,
Sie sprachen viel von hohen Lebensfreuden
Und liebten, sich im kleinsten Kreis zu drehn;
So war mein Kommen schon ein ewig Scheiden,
Und jeden hab ich einmal nur gesehn,
Denn nimmer hielt mich’s; flüchtiges Geschicke
Trieb wild mich fort, sehnt ich mich gleich zurücke!

Und manchem habe ich die Hand gedrücket,
Der freundlich meinem Schritt entgegensah,
Hab in mir selbst die Kränze all gepflücket,
Denn keine Blume war, kein Frühling da,
Und hab im Flug die Unschuld mit geschmücket,
War sie verlassen meinem Wege nah;
Doch ewig, ewig trieb mich’s schnell zu eilen,
Konnt niemals meines Werkes Freude teilen!

Rund um mich war die Landschaft wild und öde,
Kein Morgenrot, kein goldner Abendschein,
Kein kühler Wind durch dunkle Wipfel wehte,
Es grüßte mich kein Sänger in dem Hain.
Auch aus dem Tal schallt’ keines Hirten Flöte,
Die Welt schien mir in sich erstarrt zu sein.
Ich hörte in des Stromes wildem Brausen
Nur eignen Fluges Flügelschläge sausen!

Nur in mir selbst die Tiefe zu ergründen,
Senkt ich ins Herz mit Geistesmacht den Blick;
Doch hier auch konnt es eigne Ruh nicht finden,
Kehrt friedlos stets zur Außenwelt zurück;
Es sah wie Traum das Leben unten schwinden,
Las in den Sternen ewiges Geschick;
Und rings um mich eiskalte Stimmen sprachen:
"Das Herz, es will vor Wonne schier verzagen!"

Ich sah sie nicht, die großen Süßigkeiten
Vom Überfluss der Welt; sie schien mir schal,
Ich musst hinweg mit schnellem Fittich gleiten.
Hinabgedrückt von unerkannter Qual,
Konnt nimmer ich Frucht und Genuss erbeuten,
Und zählte stumm der Flügelschläge Zahl,
Von ewigen, unfühlbar mächt’gen Wogen
In weite, weite Ferne hingezogen!

Und so noch jetzt! Wohl muss ich es gestehen,
Dass Dinge mich umscheinen, menschengleich;
Zu hören sie, ja leibhaft sie zu sehen
Kann ich nicht leugnen; doch bleibt mir dies Reich
Der Welt so fremd und hohl
, dass all ihr Drehen
So viel nicht schafft, dass mir der Zweifel weich’,
Ob Sein, ob Nichtsein seinen Spuk hier treibe,
Ob solcher Welt auch Seele wohn’ im Leibe!

(Gedicht aus dem Jahre 1803)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1778-1842)

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