Sonntag, 14. September 2014

Alexander von Humboldt: An Bruder Wilhelm

Am 9. Juni 1802 brachen wir von Quito auf, um uns in den Südteil der Provinz zu begeben, wo wir den Chimborazo und den Tunguragua untersuchen und vermessen sowie die gesamten Landstriche aufnehmen wollten, die von der großen Katastrophe von 1797 erschüttert worden waren. Uns gelang es, um bis auf ungefähr 250 Toisen [knapp 500 Meter] der Spitze des ungeheuren Kolosses des Chimborazo zu nähern. Ein Grat vom Schnee nicht bedeckter vulkanischer Gesteine erleichterte uns den Aufstieg; wir stiegen bis zu einer Höhe von von 3031 Toisen [knapp 6000 Metern] auf und fühlten uns ebenso unwohl wie auf dem Gipfel des Antisana. Selbst noch zwei oder drei Tage nach unserer Rückkehr in die Ebene empfanden wir ein Unwohlsein, das wir in diesen hohen Regionen nur der Wirkung der Luft zuschreiben konnten, deren Analyse 20 Prozent Sauerstoff ergeben hatte. Die uns begleitenden Indianer hatten uns bereits vor dem Erreichen dieser Höhe verlassen, wobei sie sagten, dass wir die Absicht hätten, sie zu töten. Wir blieben folglich allein, Bonpland, Varlos Montúfar, ich und einer meiner Bediensteten, der einen Teil meiner Instrumente trug, gleichwohl hätten wir unseren Weg bis auf die Spitze fortgesetzt, hätte uns nicht eine Spalte daran gehindert, die zu tief war, um sie überwinden zu können. Wir taten daher gut daran, wieder abzusteigen. Auf unserem Rückweg fiel soviel Schnee, dass wir Mühe hatten, uns zu orientieren. Wenig geschützt vor der in diesen Höhen schneidenden Kälte, litten wir schrecklich, und ich hatte meinerseits dazu die Unannehmlichkeit, von einem Sturz wenige Tage zuvor einen wunden Fuß zu haben; und dies behinderte mich schrecklich auf einem Weg, wo man jeden Augenblick gegen einen spitzen Stein stieß und wo man jeden Schritt genau berechnen musste. La Condamine fand den Chimborazo an die 3217 Toisen hoch. Die trigonometrische Messung, die ich zweinal verschiedentlich durchführte, ergab bei mir einen Wert den 3267, und ich habe einigen Grund meinen Operationen zu trauen. Dieser ganze ungeheure Koloss ist (wie alle hohen Berge in den Anden) nicht aus Granit, sondern vom Fuß bis zur Spitze aus Porphyr, und dieser Porphyr ist hier 1900 Toisen dick. Der kurze Aufenthalt in der ungeheuren Höhe, zu der wir aufgestiegen sind, war höchst trist und furchterregend; wir waren von einem Nebel umhüllt, der uns nur von Zeit zu Zeit die fürchterlichen Abgründe erahnen ließ, die uns umgaben. Kein lebendiges Wesen, auch nicht der Kondor, der auf dem [gut 5700 Meter hohen] Antisana beständig über unseren Köpfen schwebte, belebte die Lüfte. Moosflecken waren die einzigen organischen Wesen, die uns daran erinnerten, dass wir uns noch auf der bewohnten Erde befanden.

Es ist wohl wahrscheinlich, dass der Chimborazo, wie der Pichincha und der Antisana, vulkanischer Natur ist. Der Grat, auf dem wir hinaufgestiegen waren, besteht aus einem verbrannten und verschlackten, mit Bimsstein gemengten Gestein; er gleicht allen Lavaströmen dieses Landes und setzt sich über den Punkt, an dem ich meine Untersuchungen einstellen musste, in Richtung der Spitze des Berges hinauf fort. Es ist möglich, dass diese Spitze der Krater eines erloschenen Vulkans ist, und dies darf gar als wahrscheinlich gelten; doch lässt schon der bloße Gedanke an diese Möglichkeit mit Recht erschaudern: Denn wenn sich der Vulkan wieder entzündete, so würde dieser Koloss die gesamte Provinz zerstören.

(Brief aus Lima vom 25. November 1802; abgedruckt in der 2006 bei Eichborn erschienenen Ausgabe "Über einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen")

ZUM GEBURTSTAG DES NATURFORSCHERS

Über den Autor (1769-1859)

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