Mittwoch, 18. März 2015

Friedrich Hebbel: Neues Tagebuch

Es wird mir immer klarer, dass das Denken nicht, wie ich früher glaubte, eine allgemeine Gabe ist, sondern ein ganz besonderes Talent. Ich selbst besitze dies Talent nicht, aber ich besitze die Ahnung desselben, und daher kommt es, dass ich mir nie zu genügen vermag, wenn ich einen Aufsatz schreibe. Ich will gehen und kann bloß springen; ich will alles aufs Bestimmte, Zusammenhängende, Gegliederte zurückführen und kann nur stückweise den Schleier zerreißen, der das Wahre verhüllt. Das echte Denken ist, wie jede schöpferische, ursprüngliche Kraft, produktiv; der denkt noch keineswegs, der durch eine Vernunft- oder Verstandesoperation hie und da einen Irrtum matt macht, das geschieht durch bloßes Messen, Wägen und Vergleichen. Es hätte mir nicht so lange unklar bleiben sollen, dass das Denken ein Talent ist. In jedem Menschen ist übrigens ein Surrogat, welches in einer schnellen Wahrnehmung der Analogie und des Widerspruchs besteht; ich glaube, dies Surrogat gründet sich größtenteils auf das Gefühl und ist also eine höhere Art Instinkt. Jeder große Denker hat gewiss eine neue Denkmethode, obgleich er sich ihrer nicht bewusst sein mag.

(Eintrag aus dem Jahr 1838)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1813-1863)

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