Viele Kommunisten begehen zwei Denkfehler. Der eine ist:
sie sehen innerhalb der kämpfenden Klassen nur das Proletariat. In
Wirklichkeit aber ist revolutionäre Taktik nicht, daß man immer nur sich
selbst besieht und bemißt und bespiegelt; viel wichtiger ist das
Verhältnis der Kommunisten zu allen anderen, gegen den Kapitalismus
kämpfenden Klassen und Schichten, die alle gemeinsam mitwirken am Sturze
der Bourgeoisie. Von allen diesen Klassen und Schichten ist freilich
nur das Proletariat die, die kraft ihrer Existenzbedingungen „die alten
Produktionsverhältnisse aufhebt, mit diesen Produktionsverhältnissen der
Klassengegensätze, die Klassen überhaupt aufhebt“, also die eigentlich
revolutionäre. Nur das Klassenziel der Arbeiterschaft ist ein auf
Umänderung der bestehenden Produktionsverhältnisse und aller daraus
folgenden Verhältnisse gerichtetes. In irgendeinem späteren Stadium der
Revolution muß ein – freillich auch dann nur vorübergehender – Gegensatz
also entstehen zwischen all den Klassen und Schichten, die heute neben
dem Proletariat stehen, aber nicht berechtigt darob die Kommunisten,
diese Klassen und Schichten als nicht existent oder als nicht
bündnisfähig oder gar als Feinde zu betrachten.
In seinem Gothaer Programmbrief vom Jahre 1875 sagt er:
Die Bourgeoisie ist hier (im Kommunistischen Manifest)
als revolutionäre Klasse aufgefaßt – als Trägerin der Industrie
gegenüber Feudalen und Mittelständen, welche alle gesellschaftlichen
Positionen behaupten wollen, die das Gebilde veralteter
Produktionsweisen sind. Sie bilden also nicht zusammen mit der
Bourgeoisie nur eine reaktionäre Masse.
Andererseits ist das Proletariat der Bourgeoisie
gegenüber revolutionär, weil es, selbst erwachsen auf dem Boden der
großen Industrie, der Produktion den kapitalistischen Charakter
abzustreifen strebt, das die Bourgeoisie zu verewigen sucht. Aber das
Manifest setzt hinzu: daß die Mittelstände ... revolutionär werden im
Hinblick auf ihren bevorstehenden Übergang ins Proletariat. Von diesem
Gesichtspunkt ist es also wieder Unsinn, daß sie zusammen mit der
Bourgeoisie und obendrein den Feudalen, gegenüber der Arbeiterklasse
„nur eine reaktionäre Masse“ bilden.
Neben diese theoretischen und prinzipiellen Gedanken
treten aber in revolutionären Zeiten noch taktische Erwägungen. In
nichtrevolutionären Zeiten sind sich diese nichtproletarisch und
nichtbourgeoisen Elemente ihrer Klassenlage am wenigsten bewußt. Im
langsamen Gang der Entwicklung begreifen und sehen sie nicht, wie ihre
und der Bourgeoisie Ziele auseinanderliegen und entgegengesetzte sind.
Das ist ja auch der Grund, warum – man denke an die verpowerten
Handwerker Deutschlands – sie so häufig und so zäh als das Anhängsel
von, ja als einheitlich mit der Bourgeoisie oder den feudalen Klassen
angesehen werden konnten. Revolutionen lösen aber solche
gesellschaftliche Schleier. Sie sind wie Scheidewasser und trennen das
gesellschaftlich nicht zueinander Gehörende. Sie brechen mit der
Tradition und zwingen den Menschen wie die Klasse, hinter dem Schein das
Wesen zu sehen. Der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und den unter
der Bourgeoisie der Proletarisierung ausgesetzten – wenn auch noch
nicht proletarischen – Klassen wird flagrant.
In Deutschland ist keine Mittelklasse, die so ausschlaggebend wäre. In Deutschland ist das Landproletariat selbst wieder sozial und geographisch geteilt in den landarmen Kleinbauer im Süden und den Gutsarbeiter im Norden. Daneben das Handwerk in den verschiedensten Stufen, vom krummen Dorfschneider, der in Oberbayern für das Essen und 50 Pfennige den Tag bei den Bauern herumschneidert bis zum Handwerker mit Elektromotor. Daneben aber steht als dritte und für Deutschland ungleich wichtigere Schicht, die der Beamten (privaten und öffentlichen), der vermögenslosen Intelligenz usw. Sie alle erleben die Revolution am eigenen Leibe. Man denke etwa an die Entwicklung der deutschen Eisenbahner in den zwei Jahren der Revolution. Oder man lese die kürzlich erschienene Broschüre des sächsischen Regierungsrat Schmidt-Leonhardt „Das zweite Proletariat“! Sie alle sind nicht Proletarier, wenigstens nicht nach ihrem Klassenbewußtsein, aber antibourgeois sind sie alle, und sie müssen mit in Rechnung gezogen werden.
Denn was bedeuten diese Schichten? Sie bedeuten, solange sie der Bourgeoisie zugehören, die Hände, mit denen die Bourgeoisie das Proletariat schlägt, sie bedeuten, losgelöst von der Bourgeoisie, aber auch dem Proletariat ablehnend gegenüberstehend, mindestens eine außerordentliche Erschwerung, sie bedeuten, mit dem Proletariat sympathisierend, die Erleichterung wenn nicht gar die Ermöglichung der Machtergreifung durch das Proletariat.
Dabei versteht sich ganz von selbst, daß kein Kommunist daran denkt, darauf zu warten, bis diese Schichten kommunistisch geworden sind. Lenin (Die Wahlen zur konstituierenden Versammlung und die Diktatur des Proletariates, S.17) spricht das in vorzüglicher Weise aus:
Es ist allein das Proletariat in der Lage, die
Werktätigen vom Kapitalismus zum Kommunismus hinüberzuleiten. Es ist gar
nicht daran zu denken, daß die kleinbürgerlichen und
halbkleinbürgerlichen Massen der Werktätigen im voraus die
komplizierteste der geschichtlichen Fragen entscheiden, ob sie „mit der
Arbeiterklasse oder mit der Bourgeoisie gehen“ sollen. Unerläßlich ist
ein Schwanken seitens der nichtproletarischen, werktätigen Schichten,
unerläßlich ist ihre eigene praktische Erfahrung, die ihnen gestattet,
die Führung der Bourgeoisie mit der des Proletariats zu vergleichen.
Und weiter (S.19):
Es war gerade dieses Hin- und Herschwanken der
Bauernschaft als des Hauptvertreters der kleinbürgerlichen Masse der
Werktätigen, welches das Schicksal der Sowjetmacht und der Herrschaft
von Koltschak-Denikin entschied.
Diese Schichten also können in gewissen Situationen
entscheidend sein. Es ist Pflicht der Kommunisten, auf diese Schichten
Einfluß zu gewinnen. Und womit?
Die deutschen Kommunisten haben bis jetzt noch keinen Weg gefunden, sich diesen Mittelschichten auch nur zu nähern. Ein Agrarprogramm, auch wenn es Bauern wie Landarbeiter befriedigt, genügt nicht, weil die Bauern und Landarbeiter nicht im russischen Sinne entscheidend sind. Es genügt auch nicht, den Handwerkern zu versichern, daß nach den Gesetzen kapitalistischer Wirtschaft ihr Tod als Klasse sicher sei; denn obzwar jeder sterben muß, ist doch keiner dessen Freund, der ihm den Tod täglich prophezeit. Auch die Feststellung, daß die Intellektuellen und Beamten schon Proletarier seien, wenn auch noch unbewußt, genügt nicht der Eigenart dieser Gesellschaftsschicht. Es ist kein Zweifel, daß die Kommunisten versuchen müssen, diesen Schichten näherzukommen in Fragen, die sie als Ganzes interessieren. In Rußland gab es – neben der Agrarfrage – zwei solcher Fragen. Die eine, alle anderen an Bedeutung überragend, war die Friedensfrage. Sie kommt für Deutschland vorläufig nicht in Betracht. Die andere Frage war die nationale Frage, die freilich in Rußland einen etwas anderen Inhalt hat als in Deutschland. Das Wort „nationale Frage“ weckt in Deutschland schon durch seinen Klang in gewissen Geistern Gefühle der Unruhe. Im Gedenken an den Nationalbolschewismus, einer Gefahr, der sie knapp entronnen sind, können sie das Wort „national“ schon nicht mehr hören. Der Nationalbolschewismus war nicht deswegen unkommunistisch, weil er sich mit der nationalen Frage beschäftigte, sondern deswegen, weil er die nationale Frage lösen wollte im Wege eines Paktes „aller Volksklassen“, im Wege der Verbrüderung des Proletariats mit der Bourgeoisie, der Kommunisten mit Lettow-Vorbeck. Das war das Unkommunistische. Es ist aber auch nicht kommunistisch, nunmehr die nationale Frage nicht sehen zu wollen. Schon zu Anfang der Revolution glaubte ein Berliner Literat die nationale Frage aus der Welt zu expedieren dadurch, daß er eine „antinationale Sozialistenpartei“ gründete. Auf solche Weise die nationale Frage wegdisputieren zu wollen, wäre nichts anderes, als wenn einer sagt: es gibt keine Esel mehr auf der Welt, denn ich bin ein Ochs. Die nationale Frage existiert, und Karl Marx, der Internationalist, war der letzte, der sie nicht sah und mit ihr politisch rechnete. Die „Abschaffung“ der Nation ist nicht Sache eines Dekretes noch weniger eines Parteibeschlusses, sondern ist ein Prozeß.
Indem das Proletariat zunächst die politische
Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als
Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national... Die nationalen
Gegensätze und Absonderungen der Völker verschwinden mehr und mehr ...
Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen
... In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das
andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die
andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation
fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.
Also: vorderhand ist die Nation für das Proletariat noch
eine existente Sache; die Genossen, die deswegen, weil wir im Endziel
Internationalisten sind, schon heute nicht mehr die nationale Frage
sehen und als existent behandeln wollen, begehen genau den gleichen
Fehler, den die begehen, die, weil wir im Endziel gegen Parlamente und
für Räte sind, das Parlament nicht mehr sehen wollen oder die, die, weil
wir für Beseitigung der Staaten sind, schon heute den Staat als nicht
mehr existent behandeln und, wie die Anarchisten, nichts mehr von
Politik wissen wollen. Jene Genossen sind Antipolitiker, nur ins Gebiet
der auswärtigen Politik übertragen.
Die Arbeiter können natürlich im Anfang der Bewegung noch keine direkt kommunistischen Maßregeln vorschlagen.
Der Kommunismus steht nicht am Anfang, sondern am Ende
der Revolution, und Kommunist ist nicht der, der das Ende an den Anfang
setzen, sondern der, der den Anfang zum Ende führen will. Wenn die
Kommunistische Partei nicht schon am Anfang scheitern will, wird sie
also die Fragen, die jene Mittelschichten beschäftigen, in den Kreis
ihrer Erörterung ziehen, sie wird die nationale Frage als existent
betrachten und wird die Losung ausgeben müssen, die für jene Schichten
eine wenn auch nur vorläufige Lösung bringt.
ZUM GEBURTSTAG DES POLITIKERS
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen