Die Franzosen hatten sich das ganz anders gedacht. Sie wollten auf
unsere Hauptstädte losgehen, wir sollten nicht wieder in ihr Land
eindringen wie im Jahr 1870. Als sie nun doch wieder sehen mußten, wie
unsere Soldaten unaufhaltsam vordrangen, da wurde die ganze französische
Bevölkerung von furchtbarem Grimm gegen die Deutschen erfaßt. Männer und
Frauen ließen ihre Wut sogar noch an unsern Verwundeten aus und nach der
Schlacht, wenn unsere Soldaten friedlich durch ein Dorf zogen, schossen
sie heimtückisch, hinter den Fenstern versteckt, aus ihren Häusern
heraus.
Da machten unsere Offiziere bekannt, wenn unsere Soldaten friedlich in
ein Dorf einzögen, dürfe keinem von ihnen etwas geschehen. Die Einwohner
sollten sich hüten und wenn künftig nur auch ein Schuß fiele, so würde
das ganze Dorf verbrannt.
Aber die Wut und der Haß waren zu groß; auch glaubten die Leute nicht,
daß unsere Soldaten mitten im Krieg gegen die Männer, die keine Waffen
trugen, und gegen die Frauen und Kinder freundlich sein würden. Man
hatte ihnen so viel vorgelogen, daß sie meinten, die Deutschen seien
grausame Barbaren. So kam es immer wieder vor, daß sie wie Meuchelmörder
aus dem Hinterhalt auf die einziehenden Deutschen schossen; dann gaben
die Offiziere den Befehl, das ganze Dorf in Brand zu schießen, und das
geschah.
So kam es, daß eine ganze Anzahl von Dörfern niederbrannten. Viele der Bewohner flüchteten in die nächsten Orte und erzählten dort die Schauergeschichte von dem Brand; aber das erzählten sie nicht, daß sie selbst an diesem Unglück schuld waren. So wurde die Angst vor den Deutschen und der Haß gegen sie immer größer.
Ein großes Dorf, das durch einen Bach in zwei Teile geteilt war, wurde
auf diese Weise auch in Brand geschossen; aber nur der Teil, aus dem
geschossen worden war. Kirche, Schule und eine Reihe von Häusern rings
herum waren verschont geblieben. Dort quartierten sich die Deutschen am
Abend ein; aber sie ließen auch die französischen Familien ruhig in
ihren Häusern.
So war auch ein deutscher Leutnant ganz friedlich bei zwei alten Leuten
einquartiert, die ihren kleinen Enkel bei sich hatten, einen etwa
neunjährigen Knaben. Der Junge gefiel dem Offizier, er sah sehr klug aus
und war artig gegen seine Großeltern. „Komm doch einmal her zu mir!“
rief der Offizier, der beim Frühstück saß, in französischer Sprache dem
Jungen zu.
Ohne Scheu folgte der Knabe.
„Wie heißt du denn?“—„Pierre“.
„Bist du immer bei den Großeltern?“
„Ja, wenn Schule ist. Aber in den Ferien bin ich daheim bei meinen Eltern im nächsten Dorf; dort ist keine Schule.“
„So; komm einmal mit mir, Pierre, und führe mich in die Schule!“
Ängstlich sahen die alten Leute den Knaben an der Hand des Offiziers
hinausgehen. Unter der Türe blickte der Kleine noch einmal zurück und
rief: „Keine Angst, gute Großmama!“ Die Straßen waren noch von Rauch und
Brandgeruch erfüllt; im untern Teil des Dorfes glühten noch die
Brandstätten des gestrigen Abends. An der Kirche vorbei führte der Knabe
den Leutnant zum Schulhaus. Die Türe stand offen. Sie gingen hinein.
Rechts vom Eingang deutete der Kleine auf ein offenes Schulzimmer: „Das
ist unsere Klasse. Gestern waren wir gerade in der Schule, als es hieß:
„Die Ulanen kommen!“
„Dann seid ihr alle ausgerissen.“—„Ja.“
Der Offizier ging zu der großen Schultafel, die vorn beim Fenster war.
Die ersten Zahlen einer Rechnung standen darauf. Der deutsche Offizier
nahm vom Boden die Kreide, die wohl gestern dem französischen
Schulmeister im Schrecken aus der Hand gefallen war, und nun schrieb er
mit großer Schrift in französischer Sprache an: Die deutschen Soldaten
tun keinem Menschen etwas zuleide, wenn man ihnen nichts zuleid tut. Die
deutschen Soldaten verbrennen jedes Dorf, aus dem geschossen wird.
„So, kannst du das lesen?“
„Ja, gut!“ sagte der kleine Bursche und las laut und deutlich das Geschriebene vor.
„Nun, Pierre, gehe und sage allen Leuten, was da steht, und daß sie
kommen sollen und es lesen. Hast du nicht selbst gesehen, daß es wahr
ist? Haben wir nicht das Unterdorf verbrannt, weil man von dort auf uns
schoß? Haben wir nicht das Oberdorf geschont? Sind wir zwei nicht ganz
gut Freunde?“ Er streckte dem Bürschchen die Hand hin. Es hat verstanden
und schlug ein. „Nun so spring, kleiner Kamerad.“ Der Knabe rannte davon
und machte sich sehr wichtig mit seiner Nachricht. Alle Leute mußten die
Schrift lesen.
Einen Tag hatte die Truppe auf nachfolgendes Militär zu warten, am
nächsten Abend traf dieses ein und nun sollte es weiter gehen in der
Richtung nach Paris. Aber ehe noch die Truppen abzogen, war ihnen der
kleine Pierre vorausgeeilt in das Dörfchen, wo seine Eltern lebten. Es
lag in der Richtung nach Paris, zwar nicht an der großen Straße, aber
nahe dabei, in einem Seitental. Wer konnte wissen, ob nicht ein Teil der
Soldaten sich dorthin wenden würde? Er ließ sich nicht von den
ängstlichen Großeltern zurückhalten, ihn trieb es ins Elternhaus, er
wollte warnen.
Die Kunde vom Nahen der Feinde, von verbrannten Dörfern, war schon in
das abgelegene Örtchen gedrungen und allerlei unwahre Schauergeschichten
waren dazugedichtet worden; mit Entsetzen sah man der Zukunft entgegen.
Die einzige Hoffnung war, daß die Flut nicht bis in das Seitental
dringen möchte!
Unwillkürlich sahen die wenigen Leute, die da hinten lebten und ihre Felder bestellten, unzählige Male nach dem Weg hinunter, der von der großen Straße ab zu ihnen führte und beruhigt waren sie, daß sie keinen Menschen sahen.
Niemand ging in dieser Zeit ohne dringende Not von Ort zu Ort. Aber
einmal entdeckten sie in der Ferne einen kleinen, schwarzen Punkt, der
sich vorwärts bewegte und der allmählich größer wurde. Da hielten sie an
mit der Arbeit.
„Nur ein Kind,“ meinte jetzt einer.
„Unser Kind,“ sagte eine Frau. Es war die Mutter von Pierre; sie
erkannte ihn und rief den andern, die weiter oben im Feld arbeiteten,
zu: „Pierre kommt und wie er läuft und winkt! Er hat etwas zu sagen.
Heilige Maria, Mutter Gottes, wie das Kind springt!“
Da legten sie alle ihr Geräte aus der Hand und gingen dem Knaben
entgegen.
Der war nicht wenig stolz, als sie ihn nun alle umstanden und lauschten,
was er zu Berichten wußte. Daß das untere Dorf in Brand geschossen war
und viele Menschen dabei umgekommen seien.
Aber bald geriet der kleine Mann in Zorn; denn sie hörten ihn nicht ganz
an. Von der Schule und der Schrift an der Tafel wollten sie nichts
wissen, und ihm war das doch die Hauptsache. Er wußte doch, wie man es
machen mußte, damit die Häuser nicht verbrannt wurden, und war deshalb
in solcher Eile zwei Stunden weit gelaufen, daß er noch glühte und kaum
Atem fand.
Nun jammerten die Weiber: „Was tun, wohin fliehen vor diesen Barbaren?“
Die Männer waren ja fast alle in den Krieg gezogen, nur einer stand
dabei, der ganz verwachsen war. Dieser stieß wilde, drohende Flüche aus
gegen die Deutschen. Sie sollten nur kommen, ganz nahe heran, und aus
dem Heuschober an der Straße wollte er sie niederknallen.
„Ja, ja, holt eure Büchsen,“ schrieen die Frauen.
„Ich hole die von meinem Mann!“ rief Pierre's Mutter und alle liefen in
ihre Häuser.
Wären die Deutschen in dieser Stunde gekommen, es wäre vielleicht einer
von ihnen getroffen worden, und ganz gewiß wären die Bauernhöfe mitsamt
ihren Bewohnern in Brand geschossen worden. Aber zum Glück zeigten sich
noch keine Deutschen und allmählich beruhigten sich die Leute ein wenig.
Pierre folgte seiner Mutter, die nach des Vaters Pistole suchte. Da
griff er nach ihren vor Aufregung zitternden Händen und flehte sie an:
„Mutter, ich schwöre dir's bei allen Heiligen, es geschieht uns nichts,
wenn ihr nicht schießt! Ich habe es doch gesehen: Im obern Dorf haben
sie nicht geschossen und es ist keinem was geschehen und ich war doch
selbst dabei, wie es der Offizier an die große Schultafel geschrieben
hat, und er hat neben uns geschlafen heute Nacht, hat an unserm Tisch
gefrühstückt und freundlich mit mir geredet. An seiner Hand bin ich ganz
allein mit ihm im Schulhaus gewesen und es ist mir nichts geschehen.“
„Du ganz allein mit einem deutschen Offizier! Das ist ein Wunder Gottes!
Hört man doch immer, daß sie die Kinder aufspießen, die Unmenschen!“ Da
stampfte der Bub zornig auf den Boden. „Es sind keine Unmenschen, es
ist verlogen! Aber natürlich, wenn ihr schießt, dann können wir alle
braten in den Flammen unserer Häuser!“
Jetzt staunte die Mutter über ihren Buben und sie legte die Pistole weg.
„Wenn das so ist, Pierre, warum hast du es den andern nicht gesagt?“
„Sie haben mich ja nicht hören wollen, haben alle
zusammengeschrieen.“—„So komm mit, Pierre, komm, du mußt es ihnen allen
erzählen; mach schnell, schnell, daß sie's hören, ehe die Deutschen
kommen.“
Sie gingen miteinander, um den Buckeligen aufzusuchen; die Frauen kamen
auch herzu und jetzt horchten sie alle und staunten den Pierre an, der
Hand in Hand mit einem deutschen Offizier gegangen und nicht aufgespießt
worden war. Dann wurden sie nachdenklich, ob man wirklich trauen könne,
sprachen lebhaft hin und her, bis eine rief: „Da unten kommen sie!“
Ein kleiner Trupp Deutscher bewegte sich zwischen Wiesen das Tal herauf. Ein Offizier mit Mannschaften, die einen leeren Wagen mit sich führten. Wie gebannt standen die Leute; wußten nicht, sollten sie davonlaufen oder sich verstecken. Aber es war kein Wald in der Nähe, Felder und Wiesen ringsum.
Als die Feinde näher kamen, zogen sie sich alle in das nächste große
Bauernhaus zurück und beobachteten mit Todesangst, was nun geschehen
würde. Pierre und seine Mutter waren auch dabei. Plötzlich rief der
Knabe: „Seht ihr den großen Offizier, es ist derselbe, der so freundlich
gegen mich war. Das ist gut, den verstehen wir auch, er redet
französisch. Dem kann man gleich sagen, daß von uns niemand auf ihn
schießt. Sagst du es ihm, Mutter?“
„Wie werde ich den Offizier anreden, ich fürchte mich zu Tode, wenn er
kommt!“
„Ich nicht, ich gar nicht, ich springe ihm gleich entgegen!“ Und
richtig, der kleine Bursche sprang die Wiese hinab, dem Feinde entgegen.
Mit Herzklopfen sahen alle ihm nach. Die Truppe mochte wohl sehr
erstaunt sein, daß hier ein Knabe zutraulich ihnen entgegenkam, anstatt
von ihnen davonzurennen, wie es sonst geschah. Aber der Leutnant
erkannte den kleinen Burschen sofort wieder, redete ihn freundlich an
und führte ihn an der Hand.
Pierre verstand nicht die deutschen Worte, in denen der Offizier seinen Leuten die Bekanntschaft erklärte und ahnte nicht, daß er sagte:
„Vorsicht! Es kann eine List sein, mit der man uns in irgend einen Hinterhalt locken will. Bleibt nahe bei mir! Solange wir das Kind vorne haben, werden sie schwerlich auf uns schießen.“
Nun kamen sie den Häusern ganz nahe. „Dort ist meine Mutter,“ sagte Pierre und vom Haus aus sahen alle die Geängstigten, daß Pierre den Soldaten den Weg zu ihnen wies. Pierre wollte nun vorausspringen.
„Bleib bei mir, kleiner Freund,“ rief der Leutnant und hielt den Knaben
fest. Da sah dieser betroffen auf.
„Hab' keine Angst, wir tun niemand etwas, wenn sie uns nichts tun. Aber
bis ich das weiß, mußt du bei mir bleiben.“
Das kluge Bürschlein verstand sofort, wie das gemeint war. Wußte er doch
selbst, daß dem Buckligen nicht zu trauen war. Der Kleine mußte den
großen Offizier schützen.
Nun waren sie am Haus. Das Kind an der Hand, trat der Leutnant ein,
gefolgt von seinem Trupp. Er machte die Stubentüre auf, sah vor sich ein
paar Männer und eine ganze Anzahl Weiber und Kinder, die sofort anfingen
zu schreien, wie wenn sie schon am Spieß steckten.
Der Leutnant rief mit fester, lauter Kommandostimme: „Wir kommen nicht
als Feinde in euer Haus. Keinem wird ein Haar gekrümmt, wenn ihr nicht
feindlich gegen uns seid. Wenn aber irgend etwas gegen uns geschieht,
wird sofort auf euch geschossen und die Häuser verbrannt!“
Totenstille herrschte jetzt. Da wagte doch Pierre's Mutter ein Wort:
„Mein Kleiner hat uns schon gesagt, daß der Herr so gut ist und niemand
wird etwas Feindseliges tun.“—„Nein, niemand,“ betätigte der Chor der
Weiber. Aber das scharfe Auge des Offiziers hatte im Hintergrund den
bösen Blick des Buckligen gesehen und—eine Pistole in seiner Hand. „Die
Pistole weg oder ihr seid alle des Todes!“ Die Weiber kreischten auf vor
Schrecken, aber der Bucklige hatte die Pistole schon auf den Tisch
gelegt und lächelnd entschuldigte er sich: „Pardon, es war nur Zufall,
ich wollte nichts mit der Pistole, wirklich nicht, im Krieg hat man eben
seine Waffe bei der Hand!“
Der Offizier ging an den Tisch, nahm die Pistole zu sich und sagte ruhig
zu dem Buckligen: „Sie werden einstweilen bei meinen Leuten bleiben, bis
wir fertig sind.“ Ein Wink und die Soldaten führten den Buckligen ab.
„Hände hoch!“ befahl der Offizier. Alle Anwesenden hielten die Hände
hoch—keine Waffe, kein Messer zeigte sich.
„Es ist gut,“ sagte der Offizier und ließ seinen kleinen Kameraden frei.
Dann erklärte er den Leuten in freundlichem Ton, daß er gekommen sei,
bei ihnen Lebensmittel einzukaufen für die Soldaten. Sie sollten nun
alle aus ihren Häusern bringen, was sie an Butter und Eiern, an Gemüsen,
Fleisch und sonstigen Lebensmitteln irgend entbehren könnten und sollten
es an den Wagen bringen. Es würde alles gut bezahlt werden, was sie
freiwillig brächten; nur wer nichts brächte, dem würden seine Leute
nachhelfen ohne Bezahlung. Da sprang nun wieder Pierre allen voran, zog
seine Mutter mit sich und trieb sie an, sodaß sie die ersten waren, die
einen Korb mit Lebensmitteln brachten. Stolz war Pierre, als er sah, wie
„sein“ Offizier alles bar zahlte. Allmählich kamen aus allen Häusern die
Frauen mit Vorräten und füllten den Wagen. Auch aus dem Haus des
Buckligen wurde viel herbeigeschleppt; denn dem war es angst und bang
zwischen den Soldaten. Die hatten ihn der Bequemlichkeit wegen an den
Wagen angebunden, damit sie ihn nicht immer bewachen mußten. Er aber
wollte sie gut stimmen, denn er traute den Feinden nicht, so rief er
seiner Schwester, die mit ihm hauste, immer zu: „Noch mehr, bringe noch
dies und das!“ Die leerte Küche und Speisekammer, aber ihr allein wurde
nichts bezahlt.—Der Wagen war voll. In aller Freundschaft
verabschiedeten sich die Soldaten, die einen guten Trunk bekommen
hatten, von den Leuten.
Der Offizier sah sich den Buckligen an, er traute ihm nicht. Der konnte
ihnen noch während sie abzogen schaden, er mochte wohl noch eine Büchse
besitzen. Er besprach sich mit seinen Soldaten. Darauf gingen zwei von
diesen noch einmal in das Haus zurück, suchten, machten da und dort eine
Türe auf und zu; was wollten sie wohl? Neugierig folgte ihnen Pierre.
„Hier,“ riefen sie, „hieher bringt ihn!“ Der Bucklige wurde
hereingebracht, der Offizier folgte. Sie standen vor einer
Getreidekammer ohne Fenster. „Hier nehmen Sie Platz,“ sagte der
Offizier. Wortlos folgte der Bucklige, glücklich, daß er nicht, wie
gefürchtet, fortgeführt wurde. Die Kammertüre hatte ein großes, schweres
Schloß, der Offizier schloß zu und schob den Schlüssel ein. „So,
Pierre,“ sagte er, „du kannst uns noch ins Tal hinunter begleiten und
dann darfst du den Schlüssel wieder heraufbringen und den Herrn wieder
befreien!“
Da lachte Pierre laut auf vor Vergnügen, denn er hatte einen Grimm auf
den Buckligen wegen der Pistole.
Fröhlich zog er mit den Soldaten hinunter. Sie setzten ihn auf den
Proviantwagen, hatten ihren Spaß mit ihm, und fragten sich: wie es wohl
ohne diesen kleinen Franzosen abgegangen wäre? Und die von oben sahen
dem Zug nach und dachten: Wer weiß, ob wir nicht alle dem Kleinen unser
Leben verdanken?
ZUM TODEDTAG DER SCHRIFTSTELLERIN
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