Donnerstag, 19. März 2015

Agnes Sapper: Der kleine Franzos

Als das deutsche Heer im August nach Frankreich einmarschierte, kam es gar schnell auf den großen Straßen, die nach Paris führen, vorwärts.

Die Franzosen hatten sich das ganz anders gedacht. Sie wollten auf unsere Hauptstädte losgehen, wir sollten nicht wieder in ihr Land eindringen wie im Jahr 1870. Als sie nun doch wieder sehen mußten, wie unsere Soldaten unaufhaltsam vordrangen, da wurde die ganze französische Bevölkerung von furchtbarem Grimm gegen die Deutschen erfaßt. Männer und Frauen ließen ihre Wut sogar noch an unsern Verwundeten aus und nach der Schlacht, wenn unsere Soldaten friedlich durch ein Dorf zogen, schossen sie heimtückisch, hinter den Fenstern versteckt, aus ihren Häusern heraus.

Da machten unsere Offiziere bekannt, wenn unsere Soldaten friedlich in ein Dorf einzögen, dürfe keinem von ihnen etwas geschehen. Die Einwohner sollten sich hüten und wenn künftig nur auch ein Schuß fiele, so würde das ganze Dorf verbrannt.

Aber die Wut und der Haß waren zu groß; auch glaubten die Leute nicht, daß unsere Soldaten mitten im Krieg gegen die Männer, die keine Waffen trugen, und gegen die Frauen und Kinder freundlich sein würden. Man hatte ihnen so viel vorgelogen, daß sie meinten, die Deutschen seien grausame Barbaren. So kam es immer wieder vor, daß sie wie Meuchelmörder aus dem Hinterhalt auf die einziehenden Deutschen schossen; dann gaben die Offiziere den Befehl, das ganze Dorf in Brand zu schießen, und das geschah.

So kam es, daß eine ganze Anzahl von Dörfern niederbrannten. Viele der Bewohner flüchteten in die nächsten Orte und erzählten dort die Schauergeschichte von dem Brand; aber das erzählten sie nicht, daß sie selbst an diesem Unglück schuld waren. So wurde die Angst vor den Deutschen und der Haß gegen sie immer größer.

Ein großes Dorf, das durch einen Bach in zwei Teile geteilt war, wurde auf diese Weise auch in Brand geschossen; aber nur der Teil, aus dem geschossen worden war. Kirche, Schule und eine Reihe von Häusern rings herum waren verschont geblieben. Dort quartierten sich die Deutschen am Abend ein; aber sie ließen auch die französischen Familien ruhig in ihren Häusern.

So war auch ein deutscher Leutnant ganz friedlich bei zwei alten Leuten einquartiert, die ihren kleinen Enkel bei sich hatten, einen etwa neunjährigen Knaben. Der Junge gefiel dem Offizier, er sah sehr klug aus und war artig gegen seine Großeltern. „Komm doch einmal her zu mir!“ rief der Offizier, der beim Frühstück saß, in französischer Sprache dem Jungen zu.

Ohne Scheu folgte der Knabe.

„Wie heißt du denn?“—„Pierre“.

„Bist du immer bei den Großeltern?“

„Ja, wenn Schule ist. Aber in den Ferien bin ich daheim bei meinen Eltern im nächsten Dorf; dort ist keine Schule.“

„So; komm einmal mit mir, Pierre, und führe mich in die Schule!“

Ängstlich sahen die alten Leute den Knaben an der Hand des Offiziers hinausgehen. Unter der Türe blickte der Kleine noch einmal zurück und rief: „Keine Angst, gute Großmama!“ Die Straßen waren noch von Rauch und Brandgeruch erfüllt; im untern Teil des Dorfes glühten noch die Brandstätten des gestrigen Abends. An der Kirche vorbei führte der Knabe den Leutnant zum Schulhaus. Die Türe stand offen. Sie gingen hinein. Rechts vom Eingang deutete der Kleine auf ein offenes Schulzimmer: „Das ist unsere Klasse. Gestern waren wir gerade in der Schule, als es hieß: „Die Ulanen kommen!“

„Dann seid ihr alle ausgerissen.“—„Ja.“

Der Offizier ging zu der großen Schultafel, die vorn beim Fenster war. Die ersten Zahlen einer Rechnung standen darauf. Der deutsche Offizier nahm vom Boden die Kreide, die wohl gestern dem französischen Schulmeister im Schrecken aus der Hand gefallen war, und nun schrieb er mit großer Schrift in französischer Sprache an: Die deutschen Soldaten tun keinem Menschen etwas zuleide, wenn man ihnen nichts zuleid tut. Die deutschen Soldaten verbrennen jedes Dorf, aus dem geschossen wird.

„So, kannst du das lesen?“

„Ja, gut!“ sagte der kleine Bursche und las laut und deutlich das Geschriebene vor.

„Nun, Pierre, gehe und sage allen Leuten, was da steht, und daß sie kommen sollen und es lesen. Hast du nicht selbst gesehen, daß es wahr ist? Haben wir nicht das Unterdorf verbrannt, weil man von dort auf uns schoß? Haben wir nicht das Oberdorf geschont? Sind wir zwei nicht ganz gut Freunde?“ Er streckte dem Bürschchen die Hand hin. Es hat verstanden und schlug ein. „Nun so spring, kleiner Kamerad.“ Der Knabe rannte davon und machte sich sehr wichtig mit seiner Nachricht. Alle Leute mußten die Schrift lesen.

Einen Tag hatte die Truppe auf nachfolgendes Militär zu warten, am nächsten Abend traf dieses ein und nun sollte es weiter gehen in der Richtung nach Paris. Aber ehe noch die Truppen abzogen, war ihnen der kleine Pierre vorausgeeilt in das Dörfchen, wo seine Eltern lebten. Es lag in der Richtung nach Paris, zwar nicht an der großen Straße, aber nahe dabei, in einem Seitental. Wer konnte wissen, ob nicht ein Teil der Soldaten sich dorthin wenden würde? Er ließ sich nicht von den ängstlichen Großeltern zurückhalten, ihn trieb es ins Elternhaus, er wollte warnen.

Die Kunde vom Nahen der Feinde, von verbrannten Dörfern, war schon in das abgelegene Örtchen gedrungen und allerlei unwahre Schauergeschichten waren dazugedichtet worden; mit Entsetzen sah man der Zukunft entgegen. Die einzige Hoffnung war, daß die Flut nicht bis in das Seitental dringen möchte!

Unwillkürlich sahen die wenigen Leute, die da hinten lebten und ihre Felder bestellten, unzählige Male nach dem Weg hinunter, der von der großen Straße ab zu ihnen führte und beruhigt waren sie, daß sie keinen Menschen sahen.

Niemand ging in dieser Zeit ohne dringende Not von Ort zu Ort. Aber einmal entdeckten sie in der Ferne einen kleinen, schwarzen Punkt, der sich vorwärts bewegte und der allmählich größer wurde. Da hielten sie an mit der Arbeit.

„Nur ein Kind,“ meinte jetzt einer.

Unser Kind,“ sagte eine Frau. Es war die Mutter von Pierre; sie erkannte ihn und rief den andern, die weiter oben im Feld arbeiteten, zu: „Pierre kommt und wie er läuft und winkt! Er hat etwas zu sagen. Heilige Maria, Mutter Gottes, wie das Kind springt!“

Da legten sie alle ihr Geräte aus der Hand und gingen dem Knaben entgegen.

Der war nicht wenig stolz, als sie ihn nun alle umstanden und lauschten, was er zu Berichten wußte. Daß das untere Dorf in Brand geschossen war und viele Menschen dabei umgekommen seien.

Aber bald geriet der kleine Mann in Zorn; denn sie hörten ihn nicht ganz an. Von der Schule und der Schrift an der Tafel wollten sie nichts wissen, und ihm war das doch die Hauptsache. Er wußte doch, wie man es machen mußte, damit die Häuser nicht verbrannt wurden, und war deshalb in solcher Eile zwei Stunden weit gelaufen, daß er noch glühte und kaum Atem fand.

Nun jammerten die Weiber: „Was tun, wohin fliehen vor diesen Barbaren?“ Die Männer waren ja fast alle in den Krieg gezogen, nur einer stand dabei, der ganz verwachsen war. Dieser stieß wilde, drohende Flüche aus gegen die Deutschen. Sie sollten nur kommen, ganz nahe heran, und aus dem Heuschober an der Straße wollte er sie niederknallen.

„Ja, ja, holt eure Büchsen,“ schrieen die Frauen.

„Ich hole die von meinem Mann!“ rief Pierre's Mutter und alle liefen in ihre Häuser.

Wären die Deutschen in dieser Stunde gekommen, es wäre vielleicht einer von ihnen getroffen worden, und ganz gewiß wären die Bauernhöfe mitsamt ihren Bewohnern in Brand geschossen worden. Aber zum Glück zeigten sich noch keine Deutschen und allmählich beruhigten sich die Leute ein wenig. Pierre folgte seiner Mutter, die nach des Vaters Pistole suchte. Da griff er nach ihren vor Aufregung zitternden Händen und flehte sie an: „Mutter, ich schwöre dir's bei allen Heiligen, es geschieht uns nichts, wenn ihr nicht schießt! Ich habe es doch gesehen: Im obern Dorf haben sie nicht geschossen und es ist keinem was geschehen und ich war doch selbst dabei, wie es der Offizier an die große Schultafel geschrieben hat, und er hat neben uns geschlafen heute Nacht, hat an unserm Tisch gefrühstückt und freundlich mit mir geredet. An seiner Hand bin ich ganz allein mit ihm im Schulhaus gewesen und es ist mir nichts geschehen.“

„Du ganz allein mit einem deutschen Offizier! Das ist ein Wunder Gottes! Hört man doch immer, daß sie die Kinder aufspießen, die Unmenschen!“ Da stampfte der Bub zornig auf den Boden. „Es sind keine Unmenschen, es ist verlogen! Aber natürlich, wenn ihr schießt, dann können wir alle braten in den Flammen unserer Häuser!“

Jetzt staunte die Mutter über ihren Buben und sie legte die Pistole weg.
„Wenn das so ist, Pierre, warum hast du es den andern nicht gesagt?“

„Sie haben mich ja nicht hören wollen, haben alle zusammengeschrieen.“—„So komm mit, Pierre, komm, du mußt es ihnen allen erzählen; mach schnell, schnell, daß sie's hören, ehe die Deutschen kommen.“

Sie gingen miteinander, um den Buckeligen aufzusuchen; die Frauen kamen auch herzu und jetzt horchten sie alle und staunten den Pierre an, der Hand in Hand mit einem deutschen Offizier gegangen und nicht aufgespießt worden war. Dann wurden sie nachdenklich, ob man wirklich trauen könne, sprachen lebhaft hin und her, bis eine rief: „Da unten kommen sie!“

Ein kleiner Trupp Deutscher bewegte sich zwischen Wiesen das Tal herauf. Ein Offizier mit Mannschaften, die einen leeren Wagen mit sich führten. Wie gebannt standen die Leute; wußten nicht, sollten sie davonlaufen oder sich verstecken. Aber es war kein Wald in der Nähe, Felder und Wiesen ringsum.

Als die Feinde näher kamen, zogen sie sich alle in das nächste große Bauernhaus zurück und beobachteten mit Todesangst, was nun geschehen würde. Pierre und seine Mutter waren auch dabei. Plötzlich rief der Knabe: „Seht ihr den großen Offizier, es ist derselbe, der so freundlich gegen mich war. Das ist gut, den verstehen wir auch, er redet französisch. Dem kann man gleich sagen, daß von uns niemand auf ihn schießt. Sagst du es ihm, Mutter?“

„Wie werde ich den Offizier anreden, ich fürchte mich zu Tode, wenn er kommt!“

„Ich nicht, ich gar nicht, ich springe ihm gleich entgegen!“ Und richtig, der kleine Bursche sprang die Wiese hinab, dem Feinde entgegen. Mit Herzklopfen sahen alle ihm nach. Die Truppe mochte wohl sehr erstaunt sein, daß hier ein Knabe zutraulich ihnen entgegenkam, anstatt von ihnen davonzurennen, wie es sonst geschah. Aber der Leutnant erkannte den kleinen Burschen sofort wieder, redete ihn freundlich an und führte ihn an der Hand.

Pierre verstand nicht die deutschen Worte, in denen der Offizier seinen Leuten die Bekanntschaft erklärte und ahnte nicht, daß er sagte:
„Vorsicht! Es kann eine List sein, mit der man uns in irgend einen Hinterhalt locken will. Bleibt nahe bei mir! Solange wir das Kind vorne haben, werden sie schwerlich auf uns schießen.“

Nun kamen sie den Häusern ganz nahe. „Dort ist meine Mutter,“ sagte Pierre und vom Haus aus sahen alle die Geängstigten, daß Pierre den Soldaten den Weg zu ihnen wies. Pierre wollte nun vorausspringen.

„Bleib bei mir, kleiner Freund,“ rief der Leutnant und hielt den Knaben fest. Da sah dieser betroffen auf.

„Hab' keine Angst, wir tun niemand etwas, wenn sie uns nichts tun. Aber bis ich das weiß, mußt du bei mir bleiben.“

Das kluge Bürschlein verstand sofort, wie das gemeint war. Wußte er doch selbst, daß dem Buckligen nicht zu trauen war. Der Kleine mußte den großen Offizier schützen.

Nun waren sie am Haus. Das Kind an der Hand, trat der Leutnant ein, gefolgt von seinem Trupp. Er machte die Stubentüre auf, sah vor sich ein paar Männer und eine ganze Anzahl Weiber und Kinder, die sofort anfingen zu schreien, wie wenn sie schon am Spieß steckten.

Der Leutnant rief mit fester, lauter Kommandostimme: „Wir kommen nicht als Feinde in euer Haus. Keinem wird ein Haar gekrümmt, wenn ihr nicht feindlich gegen uns seid. Wenn aber irgend etwas gegen uns geschieht, wird sofort auf euch geschossen und die Häuser verbrannt!“

Totenstille herrschte jetzt. Da wagte doch Pierre's Mutter ein Wort: „Mein Kleiner hat uns schon gesagt, daß der Herr so gut ist und niemand wird etwas Feindseliges tun.“—„Nein, niemand,“ betätigte der Chor der Weiber. Aber das scharfe Auge des Offiziers hatte im Hintergrund den bösen Blick des Buckligen gesehen und—eine Pistole in seiner Hand. „Die Pistole weg oder ihr seid alle des Todes!“ Die Weiber kreischten auf vor Schrecken, aber der Bucklige hatte die Pistole schon auf den Tisch gelegt und lächelnd entschuldigte er sich: „Pardon, es war nur Zufall, ich wollte nichts mit der Pistole, wirklich nicht, im Krieg hat man eben seine Waffe bei der Hand!“

Der Offizier ging an den Tisch, nahm die Pistole zu sich und sagte ruhig zu dem Buckligen: „Sie werden einstweilen bei meinen Leuten bleiben, bis wir fertig sind.“ Ein Wink und die Soldaten führten den Buckligen ab.

„Hände hoch!“ befahl der Offizier. Alle Anwesenden hielten die Hände hoch—keine Waffe, kein Messer zeigte sich.

„Es ist gut,“ sagte der Offizier und ließ seinen kleinen Kameraden frei. Dann erklärte er den Leuten in freundlichem Ton, daß er gekommen sei, bei ihnen Lebensmittel einzukaufen für die Soldaten. Sie sollten nun alle aus ihren Häusern bringen, was sie an Butter und Eiern, an Gemüsen, Fleisch und sonstigen Lebensmitteln irgend entbehren könnten und sollten es an den Wagen bringen. Es würde alles gut bezahlt werden, was sie freiwillig brächten; nur wer nichts brächte, dem würden seine Leute nachhelfen ohne Bezahlung. Da sprang nun wieder Pierre allen voran, zog seine Mutter mit sich und trieb sie an, sodaß sie die ersten waren, die einen Korb mit Lebensmitteln brachten. Stolz war Pierre, als er sah, wie „sein“ Offizier alles bar zahlte. Allmählich kamen aus allen Häusern die Frauen mit Vorräten und füllten den Wagen. Auch aus dem Haus des Buckligen wurde viel herbeigeschleppt; denn dem war es angst und bang zwischen den Soldaten. Die hatten ihn der Bequemlichkeit wegen an den Wagen angebunden, damit sie ihn nicht immer bewachen mußten. Er aber wollte sie gut stimmen, denn er traute den Feinden nicht, so rief er seiner Schwester, die mit ihm hauste, immer zu: „Noch mehr, bringe noch dies und das!“ Die leerte Küche und Speisekammer, aber ihr allein wurde nichts bezahlt.—Der Wagen war voll. In aller Freundschaft verabschiedeten sich die Soldaten, die einen guten Trunk bekommen hatten, von den Leuten.

Der Offizier sah sich den Buckligen an, er traute ihm nicht. Der konnte ihnen noch während sie abzogen schaden, er mochte wohl noch eine Büchse besitzen. Er besprach sich mit seinen Soldaten. Darauf gingen zwei von diesen noch einmal in das Haus zurück, suchten, machten da und dort eine Türe auf und zu; was wollten sie wohl? Neugierig folgte ihnen Pierre.

„Hier,“ riefen sie, „hieher bringt ihn!“ Der Bucklige wurde hereingebracht, der Offizier folgte. Sie standen vor einer Getreidekammer ohne Fenster. „Hier nehmen Sie Platz,“ sagte der Offizier. Wortlos folgte der Bucklige, glücklich, daß er nicht, wie gefürchtet, fortgeführt wurde. Die Kammertüre hatte ein großes, schweres Schloß, der Offizier schloß zu und schob den Schlüssel ein. „So, Pierre,“ sagte er, „du kannst uns noch ins Tal hinunter begleiten und dann darfst du den Schlüssel wieder heraufbringen und den Herrn wieder befreien!“

Da lachte Pierre laut auf vor Vergnügen, denn er hatte einen Grimm auf den Buckligen wegen der Pistole.

Fröhlich zog er mit den Soldaten hinunter. Sie setzten ihn auf den Proviantwagen, hatten ihren Spaß mit ihm, und fragten sich: wie es wohl ohne diesen kleinen Franzosen abgegangen wäre? Und die von oben sahen dem Zug nach und dachten: Wer weiß, ob wir nicht alle dem Kleinen unser Leben verdanken?


ZUM TODEDTAG DER SCHRIFTSTELLERIN

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