Freitag, 6. März 2015

Ignaz Paul Vitalis Troxler: Vorlesungen über Philosophie

Ein Gefühl der Ahnung, wie immer bei großen Wendepunkten der Geschichte, durchweht die Gemüther. Stimmen aus Deutschland, Frankreich, England und Italien verkünden die gemeinsame Hoffnung und die Erwartung einer neuen Zeit, eines neuen Lebens der Menschheit. Das Licht und Heil wird auf den verschiedensten Wegen gesucht, und selbst von ganz entgegengesetzten Seiten erwartet. Dieß unruhige Streben und die mannichfaltige Bewegung der Geister halten wir für eine das Nahen des uns verheißenen Gottesreichs auf Erden verbürgende Erscheinung. Es scheint nämlich, die Menschheit habe die Bildungsstufe erreicht, auf welcher das Christenthum nicht, wie jetzt Viele in ihrem Irrwahn glauben, ihren übelbegründeten Aufklärungs- und Verbesserungsversuchen Platz machen, sondern der ewige Geist des Evangeliums zur Wahrheit für Gesinnung, Gesittung, für Wissenschaft und Leben der Menschen und Völker werden, Haus und Schule, Kirche und Staat, den geschichtlichen und geselligen Gesammtzustand der Menschheit umschaffen soll.

Lange genug ist unter dem Namen des freien Selbstdenkens und der unbedingten Wissenschaft die Philosophie als Indifferentistin für das Höchste und Edelste, oder als Feindin der Religion, Bezweiflerin alles wahrhaft Uebersinnlichen der Welt erschienen. Selbst in neuester Zeit hat sie in Hinsicht auf alles Ueberlieferte und von außen Gegebne noch keine andere Stellung einzunehmen gewußt, als diejenige, welche ihr selbstlose Unterordnung im Dienste des im Geistesreich von Diesseits und Jenseits bereits Gewordenen, oder stolze Ueberhebung über dasselbe, und grenzenlose Abschweifung in allen von dem einen und höchsten Mittelpunkt abführenden Richtungen gab. Vorliegende Blätter, in welchen der erste Versuch erscheint, die Einheit und Ganzheit der geistigen und sittlichen, wie der physischen und psychischen Entwicklung und Erziehung der Menschennatur herzustellen, sind Abdrücke mündlicher, vor einer sehr zahlreichen oder gelehrten Zuhörerschaft im Winterhalbjahr 1834-1835 gehaltenen Vorträge. Wir haben darzuthun versucht, daß die Philosophie allerdings von keinem Gegebnen, als solchem ausgehen darf, daß sie aber auch die Aufnahme von allem in Natur und Geschichte, in Wissenschaft und Kunst Geoffenbarten, voraussetzt, und darauf eingehen muß, um als ein wahrhaft eignes und freies, mit aller bereits vorhandenen Offenbarung im Ursprung innigst einiges Geisteslicht dieselbe von innen zu durchdringen, zu erleuchten, zu läutern und fortzubilden. Somit werden wir denn auch die in unsern Tagen erst aus dem Zustand der Entwicklungsverwirrung der Philosophie hervorgetretene Frage nach ihrem wahren Grund und Anfang durch die Zurückführung derselben auf ihren Naturstand, wie er jetzt auf ihrer gegenwärtigen Bildungshöhe gegeben ist, beantworten.

(Beginn des Vorworts zu dem 1835 erschienenen Werk)

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1780-1866)

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