Dienstag, 3. März 2015

Georg Cantor: Ein Beitrag zur Manngfaltigkeitslehre

Wenn zwei wohldefinierte Mannigfaltigkeiten M und N sich eindeutig und vollständig, Element für Element, einander zuordnen lassen (was, wenn es auf eine Art möglich ist, immer auch noch auf viele andere Weisen geschehen kann), so möge für das Folgende die Ausdrucksweise gestattet sein, dass diese Mannigfaltigkeiten gleiche Mächtigkeit haben oder auch, dass sie äquivalent sind. Unter einem Bestandteil einer Mannigfaltigkeit M verstehen wir jede andere Mannigfaltigkeit M', deren Elemente zugleich Elemente von M sind. Sind die beiden Mannigfaltigkeiten M und N nicht von gleicher Mächtigkeit, so wird entweder M mit einem Bestandteile von N oder es wird N mit einem Bestandteile von M gleiche Mächtigkeit haben; im ersteren Falle nennen wir die Mächtigkeit von M kleiner, im zweiten Falle nennen wir sie größer als die Mächtigkeit von N.

Wenn die zu betrachtenden Mannigfaltigkeiten endliche, d.h aus einer endlichen Anzahl von Elementen bestehende sind, so entspricht, wie leicht zu sehen, der Begriff der Mächtigkeit dem der Anzahl und folglich dem der ganzen positiven Zahl, da nämlich zweien solchen Mannigfaltigkeiten dann und nur dann gleiche Mächtigkeit zukommt, wenn die Anzahl ihrer Elemente die gleiche ist. Ein Bestandteil einer endlichen Mannigfaltigkeit hat immer eine kleinere Mächtigkeit als die Mannigfaltigkeit selbst; dieses Verhältnis hört gänzlich auf bei den unendlichen, d.i. aus einer unendlichen Anzahl von Elementen bestehenden Mannigfaltigkeiten. Aus dem Umstand allein, dass eine unendliche Mannigfaltigkeit M ein Bestandteil einer andern N ist oder einem solchen eindeutig und vollständig zugeordnet werden kann, darf keineswegs geschlossen werden, dass ihre Mächtigkeit kleiner ist als die von N; dieser Schluss ist nur dann berechtigt, wenn man weiß, dass die Mächtigkeit von M nicht gleich ist derjenigen von N; ebensowenig darf der Umstand, dass M ein Bestandteil von N ist oder einem solchen eindeutig und vollständig zugeordnet werden kann, als ausreichend dafür betrachtet werden, dass die Mächtigkeit von M größer sei als die von N.

(Anfang des 1878 in Crelles Journal für Mathematik [Bd. 84] veröffentlichten Beitrags)

ZUM GEBURTSTAG DES MATHEMATIKERS

Über den Autor (1845-1918)

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