Der Hilfslehrer von Neudörfl, in dessen Privatzimmerchen ich oft
seinen Arbeiten zusehen durfte, verfertigte unzählige Bettelgesuche für
die ärmeren Bewohner des Dorfes und der Umgegend an den Grafen Chambord.
Auf jedes solches Gesuch hin kam ein Gulden als Unterstützung an, von
dem der Lehrer für seine Mühe immer sechs Kreuzer behalten durfte. Diese
Einnahme brauchte er. Denn sein Amt brachte ihm jährlich -
achtundfünfzig Gulden ein. Dazu hatte er Morgenkaffee und Mittagstisch
beim «Schulmeister». Er gab dann noch etwa zehn Kindern, unter denen
auch ich war, «Extrastunden». Dafür zahlte man monatlich einen Gulden.
Diesem Hilfslehrer verdanke ich viel. Nicht, dass ich von seinem
Schulehalten viel gehabt hätte. Damit ging es mir nicht viel anders als
in Pottschach. Ich wurde sogleich nach der Übersiedlung nach Neudörfl in
die dortige Schule geschickt. Sie bestand aus einem Schulzimmer, in dem
fünf Klassen, Knaben und Mädchen, zugleich unterrichtet wurden. Während
die Buben, die in meiner Bankreihe saßen, die Geschichte vom König
Arpad abschreiben mussten, standen die ganz kleinen an einer Tafel, auf
der ihnen das i und u mit Kreide aufgezeichnet wurden. Es war
schlechterdings unmöglich, etwas anderes zu tun, als die Seele stumpf
brüten zu lassen und das Abschreiben mit den Händen fast mechanisch zu
besorgen. Den ganzen Unterricht hatte der Hilfslehrer fast allein zu
besorgen. Der «Schulmeister» erschien äußerst selten in der Schule. Er
war zugleich Dorfnotar; und man sagte, er habe in diesem Amte so viel zu
tun, dass er nie Schule halten könne.
Und trotz alledem habe ich verhältnismäßig früh gut lesen gelernt.
Dadurch konnte der Hilfslehrer mit etwas in mein Leben eingreifen, das
für mich richtunggebend geworden ist. Bald nach meinem Eintreten in die
Neudörfler Schule entdeckte ich in seinem Zimmer ein Geometriebuch. Ich
stand so gut mit diesem Lehrer, dass ich das Buch ohne weiteres eine
Weile zu meiner Benutzung haben konnte. Mit Enthusiasmus machte ich mich
darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der Kongruenz,
der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte
mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden;
der pythagoreische Lehrsatz bezauberte mich.
Dass man seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter
Formen leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das gereichte mir
zur höchsten Befriedigung. Ich fand darin Trost für die Stimmung, die
sich mir durch die unbeantworteten Fragen ergeben hatte. Rein im Geiste
etwas erfassen zu können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß,
dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe.
In meinem Verhältnisse zur Geometrie muss ich das erste Aufkeimen
einer Anschauung sehen, die sich allmählich bei mir entwickelt hat Sie
lebte schon mehr oder weniger unbewusst in mir während der Kindheit und
nahm um das zwanzigste Lebensjahr herum eine bestimmte, vollbewusste
Gestalt an.
Ich sagte mir: die Gegenstände und Vorgänge, welche die Sinne
wahrnehmen, sind im Raume. Aber ebenso wie dieser Raum außer dem
Menschen ist, so befindet sich im Innern eine Art Seelenraum, der der
Schauplatz geistiger Wesenheiten und Vorgänge ist. In den Gedanken
konnte ich nicht etwas sehen wie Bilder, die sich der Mensch von den
Dingen macht, sondern Offenbarungen einer geistigen Welt auf diesem
Seelen-Schauplatz. Als ein Wissen, das scheinbar von dem Menschen selbst
erzeugt wird, das aber trotzdem eine von ihm ganz unabhängige Bedeutung
hat, erschien mir die Geometrie. Ich sagte mir als Kind natürlich nicht
deutlich, aber ich fühlte, so wie Geometrie muss man das Wissen von der
geistigen Welt in sich tragen.
Denn die Wirklichkeit der geistigen Welt war mir so gewiss wie die
der sinnlichen. Ich hatte aber eine Art Rechtfertigung dieser Annahme
nötig. Ich wollte mir sagen können, das Erlebnis von der geistigen Welt
ist ebenso wenig eine Täuschung wie das von der Sinnenwelt. Bei der
Geometrie sagte ich mir, hier darf man etwas wissen, was nur die Seele
selbst durch ihre eigene Kraft erlebt; in diesem Gefühle fand ich die
Rechtfertigung, von der geistigen Welt, die ich erlebte, ebenso zu
sprechen wie von der sinnlichen. Und ich sprach so davon. Ich hatte zwei
Vorstellungen, die zwar unbestimmt waren, die aber schon vor meinem
achten Lebensjahr in meinem Seelenleben eine große Rolle spielten. Ich
unterschied Dinge und Wesenheiten, «die man sieht» und solche, «die man
nicht sieht».
Ich erzähle diese Dinge wahrheitsgemäß, trotzdem die Leute, welche
nach Gründen suchen, um die Anthroposophie für phantastisch zu halten,
vielleicht daraus den Schluss ziehen werden, ich wäre eben als Kind
schon phantastisch veranlagt gewesen; kein Wunder, dass dann auch eine
phantastische Weltanschauung sich in mir ausbilden konnte.
Aber gerade deshalb, weil ich weiß, wie wenig ich später meinen
persönlichen Neigungen in der Schilderung einer geistigen Welt
nachgegangen bin, sondern nur der inneren Notwendigkeit der Sache, kann
ich selbst ganz objektiv auf die kindlich unbeholfene Art zurückblicken,
wie ich mir durch die Geometrie rechtfertigte, dass ich doch von einer
Welt sprechen musste, «die man nicht sieht».
Nur das muss ich auch sagen: ich lebte gerne in dieser Welt. Denn ich
hätte die Sinnenwelt wie eine geistige Finsternis um mich empfinden
müssen, wenn sie nicht Licht von dieser Seite bekommen hätte.
Der Hilfslehrer in Neudörfl lieferte mir mit seinem Geometriebuch die
Rechtfertigung der geistigen Welt, die ich damals brauchte.
Ich verdanke ihm auch sonst sehr viel. Er brachte mir das
künstlerische Element. Er spielte Violine und Klavier. Und er zeichnete
viel. Beides zog mich stark zu ihm hin. Ich war, so viel es nur sein
konnte, bei ihm.
(Aus der 1923 bis 1925 verfassten Autobiographie)
ZUM TODESTAG DES MYSTIKERS
Über den Autor (1861-1925)
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