Opponent: Also verehrter Meister Berg, wir müssen beginnen!
Alban Berg: Fangen nur Sie an, es genügt mir, wenn ich das letzte Wort habe.
Opp.: So sicher sind Sie Ihrer Sache?!
Berg: So sicher, wie man einer Sache sein kann, an deren
Entwicklung und Wachstum man selbst seit einem Vierteljahrhundert Anteil
genommen hat, und zwar nicht nur mit der Sicherheit, die einem Verstand
und Erfahrung gegeben haben, sondern - was mehr ist - mit der des
Glaubens.
Opp.: Also schön! Es ist wohl am einfachsten, wenn ich gleich den Titel unseres Dialoges aufgreife: Was ist atonal?
Berg: Die Antwort läßt sich nicht leicht mit einer Formel
abtun, die gleichzeitig Definition wäre. Dort, wo dieser Ausdruck zum
ersten Mal gebraucht wurde – wahrscheinlich in einer Zeitungskritik –
kann es, wie das Wort deutlich
sagt, natürlich nur gewesen sein, um eine Musik zu bezeichnen, deren
harmonischer Verlauf nicht den bis dahin bekannten Gesetzen der
Tonalität entsprach.
Opp.: Das soll wohl heißen: Im Anfang war das Wort, oder
besser gesagt, ein Wort, mit dem die Hilflosigkeit ausgeglichen werden
sollte, mit der man einer neuen Erscheinung gegenüberstand.
Berg: Ja, das will ich sagen, aber noch mehr: Diese
Bezeichnung „atonal“ geschah zweifellos in der Absicht, herabzusetzen,
so wie dies bei den zur selben Zeit aufgebrachten Worten, wie
arhythmisch, amelodisch, asymmetrisch der Fall ist. Während sich aber
diese Worte nur zu einer gelegentlichen Kennzeichnung spezieller Fälle
eigneten, wurde die Bezeichnung „atonal“ – ich muß schon sagen: leider –
zu einem Sammelbegriff für eine Musik, von der man nicht nur annahm,
daß sie keine Bezogenheit zu einem harmonischen Zentrum hat (um mich des
von Rameau eingeführten Begriffes der Tonalität zu bedienen), sondern,
daß sie auch allen anderen Erfordernissen der Musik, wie Melodik,
Rhythmik, formale Gliederung, im kleinen und im großen nicht entspricht,
so daß die Bezeichnung heute eigentlich soviel heißt, wie keine Musik,
ja wie Unmusik. Tatsächlich stellt man sie ja auch in völligen Gegensatz
zu dem, was man bisher unter Musik verstand.
Opp.: Aha, ein Vorwurf! Ich muß ihn freilich gelten lassen.
Nun sagen Sie aber selbst, Herr Berg, besteht nicht tatsächlich ein
solcher Gegensatz, und ist durch den Verzicht auf die Bezugnahme auf
eine bestimmte Tonica nicht tatsächlich das ganze Gebäude der Musik erschüttert?
Berg: Bevor ich Ihnen das beantworte, möchte ich folgendes
vorausschicken: Wenn diese sogenannte atonale Musik in harmonischer
Hinsicht auch nicht auf eine Dur- oder Mollskala bezogen werden kann -
schließlich hat es ja auch schon vor der Existenz dieses harmonischen
Systems Musik gegeben – ...
Opp.: ... und was für eine schöne, kunstvolle und phantasiereiche! ...
Berg: ... so ist damit noch gar nicht festgestellt, ob
sich nicht doch in den „atonalen“ Kunstwerken des letzten
Vierteljahrhunderts, zumindest in Hinblick auf die chromatische Skala
und die daraus resultierenden neuen Akkordbildungen, ein harmonisches
Zentrum, welches natürlich nicht mit dem Begriff der alten Tonica
identisch ist, finden lassen wird. Selbst wenn dies in Form einer
systematischen Theorie nicht gelingen sollte, ...
Opp.: Ach, diesen Zweifel finde ich unberechtigt!
Berg: Na, um so besser! Aber unabhängig davon sind wir auch
heute schon so weit, in der von Schönberg zum ersten Mal praktizierten
„Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ ein System zu
haben, das der alten Harmonielehre hinsichtlich Gesetzmäßigkeit und
Materialgebundenheit in nichts nachsteht.
Opp.: Sie meinen wohl die sogenannten Zwölftonreihen? Wollen Sie in diesem Zusammenhang darüber nichts Näheres sagen?
Berg: Nicht jetzt, das würde zu weit führen. Wir wollen ja von dem Begriff „atonal“ sprechen.
Opp.: Ja natürlich! Sie haben ja auch auf meine frühere Frage
noch gar nicht geantwortet, ob nämlich nicht wirklich ein solcher
Gegensatz zwischen der früheren und der jetzigen Musik besteht und ob
also durch den Verzicht auf die Bezogenheit auf eine Tonica nicht
tatsächlich das ganze Gebäude der Musik ins Wanken gekommen ist?
Berg: Nun, wo wir uns geeinigt haben, daß durch den Verzicht
auf die Dur- und Molltonalität keineswegs harmonische Anarchie
einzureißen braucht, kann ich diese Frage viel leichter beantworten. –
Selbst wenn durch den Verlust von Dur und Moll einige harmonische
Möglichkeiten verloren gegangen sind, so sind doch alle anderen
Erfordernisse wirklicher und echter Musik geblieben.
Opp.: Zum Beispiel welche?
Berg: So schnell ist das nicht aufgezählt, da möchte ich schon näher darauf eingehen; ja, ich muß
es tun, denn es handelt sich gerade darum, zu zeigen, daß dieser
anfangs ganz einseitig sich auf das Harmonische beziehende Begriff der
Atonalität jetzt, wie schon gesagt, ein Sammelbegriff für „Unmusik“
geworden ist.
Opp.:
Unmusik? Den Ausdruck finde ich zu stark; ich habe ihn auch noch nicht
gehört. Ich glaube, daß es den Gegnern der atonalen Klänge hauptsächlich
darauf ankommt, den Gegensatz mit der sogenannten „schönen“ Kunst zu
betonen.
Berg: Von mir aus fassen Sie es so auf. Jedenfalls soll mit
diesem Sammelbegriff alles geleugnet werden, was bisher den Inhalt der
Musik ausgemacht hat. Ich habe schon die Worte arhythmisch, amelodisch,
asymmetrisch erwähnt und könnte sie um ein Dutzend weiterer, die moderne
Musik herabsetzende Bezeichnungen wie: Kakophonie, Retortenmusik, die
ja teilweise schon in Vergessenheit geraten sind, oder wie solche
neueren Datums, wie die der Linearität, des Konstruktivismus, der Neuen
Sachlichkeit, der Polytonalität, der Maschinenmusik etc., vermehren.
Alle diese in einzelnen speziellen Fällen vielleicht treffenden
Bezeichnungen unter einen Hut gebracht, ergeben heute den Scheinbegriff
der „atonalen“ Musik, an welchem von denen, die die Berechtigung dieser
Musik negieren, mit großer Beharrlichkeit festgehalten wird und zwar mit
dem Endzweck, auf diese Weise mit einem Wort der neuen Musik
alles abzusprechen, was, wie gesagt, bisher Musik ausgemacht hat und
damit ihre Existenzberechtigung zu leugnen.
Opp.: Da sehen Sie zu schwarz, Herr Berg! Vielleicht hätten
Sie mit dieser Behauptung vor nicht langer Zeit noch zur Gänze recht
behalten können. Heute weiß man ja, daß atonale Kunst für sich genommen
fesseln kann, ja in bestimmten Fällen sogar fesseln muß. Dort nämlich,
wo echte Kunst ist! Es handelt sich nur darum, zu zeigen, ob atonale
Musik wirklich in jenem gleichen Sinn als Musik zu bezeichnen ist wie
alles frühere Schaffen. Das heißt, ob – wenn sich, wie Sie behaupten,
nur das harmonische Fundament geändert hat – alle anderen Elemente der
bisherigen Musik auch in der neuen vorhanden sind.
Berg: Das behaupte ich allerdings und könnte dies an Hand
einer modernen Partitur in jedem Takt nachweisen. Vor allem nachweisen –
um mit dem Wichtigsten zu beginnen –, daß dieser Musik, wie jeder
anderen, die Melodie, die Hauptstimme, das Thema zugrunde liegt, beziehungsweise ihr Verlauf dadurch bedingt ist.
Opp.: Ja, ist denn innerhalb dieser Musik Melodie im herkömmlichen Sinn überhaupt möglich?
Berg: Ja natürlich, sogar eine gesangliche.
Opp.: Nun, was den Gesang betrifft, Herr Berg, so befindet
sich die atonale Musik ja doch auf neuen Wegen. Hier gibt es unbedingt
bisher Ungehörtes, ja, ich möchte fast sagen, vorläufig Unerhörtes.
Berg: Aber doch nur in Bezug auf das Harmonische; darüber sind
wir uns ja einig. Es ist aber ganz falsch, dies im Hinblick auf die
sonstige Eigentümlichkeit der melodischen Linienführung als einen neuen
Weg, wie Sie behaupten, oder gar als Ungehörtes und Unerhörtes zu
bezeichnen. Auch bei einem Gesangspart nicht, auch wenn er sich, wie
unlängst zu lesen war, durch instrumental chromatische, verkrauste,
verzackte, weitsprüngige Intervalle auszeichnet, ebensowenig, wie damit
allen gesanglichen Notwendigkeiten der Menschenstimme widersprochen
wird.
Opp.: Das habe ich auch nicht behauptet, aber ich kann mir
nicht helfen, eine solche Behandlung der Gesangsmelodie und der Melodie
überhaupt erscheint mir doch noch nicht dagewesen.
Berg: Das ist es ja, wogegen ich mich wehre. Ich behaupte im
Gegenteil, daß die Gesangsmelodie, so wie sie mit diesen angeführten
Worten charakterisiert, ja karikiert wurde, immer da war,
besonders in der deutschen Musik, und ich behaupte weiter, daß diese
sogenannte atonale Musik, soweit sie wenigstens von Wien ausging, sich
natürlich auch in dieser Hinsicht an die Meisterwerke der deutschen
Musik gehalten hat und nicht etwa – bei aller Verehrung - an die
italienische Belkantooper. Eine Melodie, die sich an eine stufenreiche
und, was fast gleichbedeutend ist, kühne Harmonik anschließt, kann
natürlich, solange man diese harmonische Ausdeutung nicht versteht,
leicht „verkraust“ erscheinen, was ja von einer mit Chromatik
durchsetzten Schreibweise nicht minder der Fall ist, und wofür es
hunderte Beispiele bei Wagner gibt. Aber hören
Sie lieber eine Melodie von Schubert aus dem berühmten Lied „Letzte
Hoffnung“. – Ist Ihnen das verkraust genug? Oder folgende, ohne die
harmonische Grundlage kaum verständliche Phrase aus dem Lied:
„Wasserfluth“ (Takt 11/12)?
Um bei Schubert, diesem Melodiker par excellence zu bleiben, was
sagen Sie zu einer solchen Behandlung der Singstimme aus dem Lied „Der
stürmische Morgen“ (Takt 4/8)? – Sind das nicht typische Beispiele für
eine reichlich verzackte Singstimme? Und dies für eine besonders
„weitsprüngige“?
Ähnliches, quasi Instrumentales finden Sie in der Stimmführung
Mozarts. Es genügt ein Blick in die Don Juan-Partitur. Zum Beispiel
folgende für Streicher wie geschaffene Gesangsstelle der Donna Elvira
(Takt 1) oder die verkappte Klarinettenstelle der selben Arie (Takt 5)
oder die instrumentale Stelle des Leporello-Zerlinen-Duetts (Takt 30/31)
oder die ganze Donna Anna-Partie oder, um schließlich einen besonders
deutlichen Fall aufzuzeigen von einer verzackten, weitsprüngigen, den
Umfang von zwei Oktaven überschreitenden Melodie, die folgende
Gesangsstelle aus „Cosi fan tutte“ (1. Akt, Arie der Fiordiligi, Takt
9-13)!
Sie sehen, daß es also doch noch eine andere Behandlung der
Singstimme gibt als die, die man uns immer als Vorbild vorhält, und die
sich im Grunde nur durch gehäufte Verwendung langgezogener Töne in der
oberen Quint der jeweiligen Singstimme auszeichnet, sondern daß, wie die
Klassiker gezeigt haben, die Singstimme unter Umständen auch ein
durchwegs bewegliches, in allen Lagen ausdrucksvolles, beseeltes und
noch dazu der Deklamation fähiges - allerdings ideales - Instrument
darstellt. Sie sehen aus diesen klassischen Beispielen aber auch, daß es
gar nichts mit der Atonalität zu tun hat, wenn einer Melodik, und dies
auch in der Opernmusik, die schwelgerische Weichheit italienischer
Kantilenen abgeht. Sie werden übrigens dies auch vergeblich bei Bach
suchen, und dem wird doch hoffentlich niemand melodische Potenz
absprechen.
Opp.: Zugegeben. Aber es scheint noch ein anderes Merkmal zu sein, wodurch sich die Melodik dieser sogenannt atonalen Musik von der bisherigen unterscheidet. Ich meine die Asymmetrie der melodischen Gliederung.
Berg: Sie vermissen bei unserer Musik wohl die Zwei- und
Viertaktigkeit, wie wir dies bei der Musik der Wiener Klassiker und der
gesamten Romantiker inklusive Wagner konstatieren können. Da haben Sie
richtig beobachtet, aber vielleicht übersehen, daß gerade diese
Geradtaktigkeit eine Eigentümlichkeit nur dieser Epoche darstellt und
bei Bach zum Beispiel schon nur in seinen homophoneren Werken und in den
an die Tanzmusik angelehnten Suiten zu finden ist. Aber auch in der
Epoche der Wiener Klassiker und besonders in den Werken Mozarts und
Schuberts finden wir immer wieder, und zwar gerade in den Schöpfungen
ihrer höchsten Meisterschaft, das Bestreben, diese Bindungen einer
geradtaktigen Symmetrie zu sprengen: ich zitiere der Einfachheit halber
nur einige berühmte Partien aus dem „Figaro“. So die Cherubin-Arie:
„Neue Freuden, neue Schmerzen“, wo den ersten zwei Viertaktern gleich
vier Dreitakter folgen, dann wieder zwei Zweitakter, dann aber gar zwei
fünftaktige Gebilde. Weiters den Marsch des Hochzeitszugs aus dem II.
Akt, in dessen normale Viertaktigkeit ganz gegen alles Marschmäßige
plötzlich zwei Dreitakter eingeschoben sind. Schließlich die
„Rosenarie“, deren Gliederung völlig aus dem Rahmen des geradtaktigen
Periodenbaus fällt, und wo sich aus einer Reihe von Dreitaktern an
sechster Stelle ganz frei eine Erweiterung zu fünf Takten ergibt.
Diese Kunst des asymmetrischen Melodienbaues hat sich im weiteren
Verlauf des folgenden Jahrhunderts immer weiter entwickelt (denken Sie
nur an Brahms, und schauen Sie auf das hin nur seine berühmten Lieder
an, etwa das „Vergebliche Ständchen“, oder „Am Sonntagmorgen“ oder
„Immer leiser wird mein Schlummer“), und wenn auch bei Wagner und seinen
Epigonen der viertaktige Periodenbau vorherrscht (diese Primitivität
wurde eben zugunsten anderer Neuerungen, besonders auf harmonischem
Gebiet, beibehalten), so ist doch auch zu dieser Zeit die Tendenz
besonders deutlich, das Festhalten an dieser Zwei- und Viertaktigkeit
aufzugeben. Es geht hier eine gerade Linie von
Mozart über Schubert und Brahms zu Reger und Schönberg. Und da ist
vielleicht nicht uninteressant zu erwähnen, daß sowohl Reger als
Schönberg, wenn sie auf den unsymmetrischen Bau ihrer melodischen
Linienführung zu sprechen kamen, darauf hinwiesen, dass diese etwa der
Prosa des gesprochenen Wortes gleichzusetzen wäre, während die streng
geradtaktige Melodik mehr der gebundenen Rede (der Versform) entspräche.
Aber ebensowenig wie die Prosa, ist die unsymmetrische Melodik weniger
logisch gegliedert, als die symmetrische. Sie besitzt ebenso wie diese
ihre Halb- und Ganzschlüsse, Ruhe- und Höhepunkte, Zäsuren und
Übergänge, einleitende und abschließende Momente, die man infolge ihrer
zielstrebigen Tendenz ohne weiters mit Modulationen und Kadenzen
vergleichen kann. All dies zu erkennen ist gleichbedeutend damit, sie
als Melodien im wahrsten Sinne des Wortes zu empfinden...
Opp.: ... und sie vielleicht sogar für schön halten.
Berg: Ganz richtig! Aber gehen wir weiter: Mit dieser Freiheit
der Melodiegestaltung geht natürlich auch die der richtigen Gliederung
einher. Damit, daß die Rhythmik solcher Musik eine Auflockerung erfahren
hat, sagen wir: durch Verkürzung, Verlängerung und Ineinandergreifen
der Werte sowie Verschiebung der Schwerpunkte, wie dies wieder ganz
besonders bei Brahms zu konstatieren ist, sind noch nicht die Gesetze
der Rhythmik aufgehoben, und es ist ebenso unsinnig, ein solches
Verfahren, das doch nur eine Verfeinerung der Kunstmittel darstellt,
„arhythmisch“ zu nennen, wie die Bezeichnung „amelodisch“. Diese
Rhythmik wird ja noch besonders bedingt durch die Vielstimmigkeit der
neuen Musik, und hier wäre es nicht unangebracht zu konstatieren, daß
wir uns scheinbar in einer Zeit befinden, die der Bach'schen sehr
ähnlich ist. So wie sich nämlich damals in der Erscheinung Bachs selbst
die Umwandlung der reinen Polyphonie und des imitatorischen Stils – und
des Begriffs der Kirchentonarten – zu der auf das Dur- und
Mollgeschlecht gestützten harmonischen Schreibweise vollzogen hat, so
gelangen wir jetzt aus der harmonischen Zeit, die eigentlich die ganze
Wiener Klassik und deren Jahrhundert beherrscht hat, langsam aber
unaufhaltsam in
eine Epoche mit vorwiegend polyphonem Charakter. Mit diesem Hinweis auf
die Polyphonie ist in der sogenannt atonalen Musik ein weiteres Merkmal
jeder echten Musik aufgezeigt, das nicht dadurch hinfällig gemacht
werden kann, daß ihm der Spitzname „Linearität“ beigelegt wird.
Opp.: Da sind wir, glaube ich, bei einem springenden Punkt.
Berg: Ja, beim Kontrapunkt.
Opp.: Ganz richtig. Das Wesen der Vielstimmigkeit besteht ja
in der Bei- und Unterordnung der Stimmen, solcher Stimmen nämlich, die
ein Eigenleben haben. Die Gesichtspunkte dabei sind wohl auch
harmonischer Natur; ich meine: das Eigenleben aller Stimmen ergibt ein
zweites, ein neues Leben, das des Zusammenklangs. ...
Berg: ... das natürlich kein zufälliges, sondern ein bewußt Gestaltetes und Gehörtes ist.
Opponent: Nun, eben dieser Einwurf wundert mich eigentlich.
Ist denn jenes elementar wirkende Zusammenströmen der atonalen Stimmen,
die mir alle innere Gegensätzlichkeit zu entbehren scheinen, von der ein
großes Innenleben bewegt ist, auch eine Angelegenheit des bewußten
Gestaltens oder das Spiel eines von, zugegeben höchster Inspiration
beschworenen Zufalls?
Berg: Auf diese Frage kann ich Ihnen – will ich nicht zu
weitschweifig und theoretisch werden – nur mit einer aus der Erfahrung
gewonnenen Wahrheit antworten. Aus einer Erfahrung, die ich nicht nur
aus dem eigenen Schaffen schöpfe, sondern auch aus dem von Künstlern,
denen die Kunst so heilig ist wie mir (so unzeitmäßig sind wir von der
Wiener „atonalen“ Schule nämlich!): Kein Takt – und sei er von der
kompliziertesten harmonischen, rhythmischen und kontrapunktischen Faktur
– steht in dieser, unserer Musik, der nicht der schärfsten Kontrolle
des Gehörs, des äußeren und des inneren Gehörs, unterworfen wäre, und
für dessen Sinn, an sich sowohl als in der Stellung zum Ganzen, nicht
ebenso die künstlerische Verantwortung übernommen wird, wie für die auch
dem Laien sofort einleuchtende Logik eines ganz primitiven Gebildes,
etwa eines einfachen Motivs oder einer simplen Harmoniefolge.
Opp.:
Diese Erklärung erscheint mir ganz wesentlich. Trifft sie zu, dann
möchte es mir fast scheinen, als würde das Wort „atonal“ sinnstörend für
die ganze Kunstrichtung sein.
Berg: Ja, davon rede ich doch die ganze Zeit und versuche, es Ihnen klarzumachen.
Opp.: Dann müßten Sie, das heißt Ihre Musik, doch aber auch zu den formalen
Elementen früherer Musik in irgendeiner Weise in Beziehung stehen? Wenn
ich recht vermute, so strebt gerade die – das Wort will mir nun nicht
mehr recht zum Mund heraus – atonale Musik eine Heranziehung der älteren Formen an?
Berg: Der Form überhaupt, und ist es da verwunderlich, daß man
da auch auf die älteren zurückgreift? Ist das nicht vielmehr ein
weiterer Beweis, wie sich gerade die heutige Kunstübung des ganzen
Reichtums der Musik bewußt ist? Wir haben ja eben konstatiert, daß dies
in allen Belangen ernster Musik der Fall ist. Und daß sich dieser
Reichtum, in allen Belangen offenbart, gleichzeitig offenbart – ich
meine also im Hinblick auf ihre harmonische Entwicklung, ihre freie
Melodiebildung, ihre rhythmische Mannigfaltigkeit, ihre Bevorzugung der
Vielstimmigkeit und der kontrapunktischen Schreibweise überhaupt und
schließlich ihre Heranziehung aller in der Musikentwicklung von
Jahrhunderten gegebenen formalen Möglichkeiten … daß also ein solcher
Reichtum in dieser Musik hier zutage tritt, kann man ihr doch nicht zum
Vorwurf machen und sie dafür mit dem fast schon zum Schimpf gewordenen
Kennwort „atonal“ belegen.
Opp.: Sie haben, Herr Berg, jetzt eben ein wichtiges Positivum
ausgesprochen. Ich selbst bin gewissermaßen von einem Alpdruck befreit,
weil sogar ich der Meinung war, daß das von irgendwoher dahergekommene
Wort „atonal“ den Anlaß gebildet hat, daß eine musikalische
Justament-Theorie entstanden ist, die außerhalb der Linie eines
natürlichen Werdeganges stehen würde.
Berg: Das würde den Gegnern dieser neuen Musik wohl so passen, denn dann hätten sie sämtlich recht mit dem, was hinter dem
Wort „atonal“ eigentlich steckt und was so viel heißen soll, wie
musikwidrig, häßlich, einfallslos, mißklingend und destruktiv, und
hätten weiter berechtigten Grund, über die Ton- und Klanganarchie, über
die Zertrümmerung des alten Musikgutes und über unser hilfloses
Entwurzeltsein wehzuklagen. Ich sage Ihnen, daß dieser ganze Schrei nach
der Tonalität nicht so sehr dem Bedürfnis nach einer Bezogenheit auf
einen Grundton entspringt, sondern vielmehr dem Bedürfnis nach bekannten
Zusammenklängen, sagen wir es offen, nach dem Dreiklang, und ich glaube
behaupten zu können, daß eine Musik, wenn sie nur genügend solche
Dreiklänge enthält, nicht Anstoß erregt, auch wenn sie sonst noch so
sehr den heiligen Gesetzen der Tonalität widerspricht.
Opp.: So ist sie Ihnen also doch noch heilig, diese gute alte Tonalität?
Berg: Wäre sie es mir nicht, wie brächte unsereins – aller Ungläubigkeit der Mitwelt zum Trotz – den Glauben auf, zu einer neuen Kunst, für die der leibhaftige Antichrist keinen Namen hätte ersinnen können, der teuflischer wäre als dieses Wort: „Atonal“!
(Aus dem Manuskript des Wiener Rundfunk-Dialogs vom 23. April 1930)
ZUM GEBURTSTAG DES MUSIKERS
Über den Befragten (1885-1935)
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