Donnerstag, 19. Februar 2015

Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum

Man spricht oft von Naturgesetzen. Was bedeutet dieser Ausdruck? Gewöhnlich wird man der Meinung begegnen, die Naturgesetze seien Regeln, nach welchen die Vorgänge in der Natur sich richten müssen, ähnlich den bürgerlichen Gesetzen, nach welchen die Handlungen der Bürger sich richten sollen. Einen Unterschied pflegt man darin zu sehen, daß die letzteren Gesetze auch übertreten werden können, während man Abweichungen der Naturvorgänge von ersteren für unmöglich hält. Diese Auffassung der Naturgesetze wird aber erschüttert durch die Überlegung, daß wir ja nur aus den Naturvorgängen selbst die Naturgesetze ablesen, abstrahieren, und daß wir hierbei vor Irrtümern durchaus nicht gesichert sind. Selbstverständlich läßt sich dann jede Durchbrechung der Naturgesetze durch unsere irrtümliche Auffassung erklären, und die Vorstellung von der Unverbrüchlichkeit dieser Gesetze verliert jeden Sinn und Wert. Wird einmal die subjektive Seite unserer Naturauffassung hervorgekehrt, so gelangt man leicht zu der extremen Ansicht, nach welcher unsere Anschauung und unsere Begriffe allein der Natur Gesetze vorschreiben. Betrachten wir aber unbefangen das Werden der Naturwissenschaft, so sehen wir deren Ursprung darin, daß wir an den Vorgängen zunächst die Seiten beachten, welche für uns unmittelbar biologisch wichtig sind, und daß später erst unser Interesse auf die mittelbar biologisch wichtigen Seiten der Vorgänge fortschreitend sich weiter ausdehnt. Angesichts dieser Überlegung wird vielleicht folgende naheliegende Fassung Zustimmung finden: Ihrem Ursprunge nach sind die »Naturgesetze« Einschränkungen, die wir unter Leitung der Erfahrung unserer Erwartung vorschreiben.

(Aus den 1905 erschienenen 'Skizzen zur Psychologie der Forschung')

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1838-1916)

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