2. Da sank die Sonne, und kaum war sie verhüllt
im Niedergang, so stieg im Aufgang das Morgenroth wieder empor, und
Morgen, Mittag, Abend und Nacht, jagten sich, in schwindelnder Eile, um
den Bogen des Himmels.
3. Erstaunt sah ich sie sich drehen in wilden
Kreisen; mein Puls floh nicht schneller, meine Gedanken bewegten sich
nicht rascher, und die Zeit in mir gieng den gewohnten Gang, indes sie
ausser mir, sich nach neuem Gesetz bewegte.
4. Ich wollte mich hinstürzen in das Morgenroth,
oder mich tauchen in die Schatten der Nacht, um mit in ihre Eile gezogen
zu werden, und nicht so langsam zu leben; da ich sie aber immer
betrachtete, ward ich sehr müde und entschlief.
5. Da sah ich ein weites Meer vor mir, das von keinem Ufer umgeben war, weder im Ost noch
Süd noch West, noch Nord: kein Windstoß bewegte die Wellen, aber die
unermeßliche See bewegte sich doch in ihren Tiefen, wie von innern
Gährungen bewegt.
6. Und mancherlei Gestalten stiegen herauf, aus
dem Schoos des tiefen Meeres, und Nebel stiegen empor und wurden Wolken,
und die Wolken senkten sich, und berührten in zuckenden Blitzen die
gebährenden Wogen.
7. Und immer mannichfaltigere Gestalten
entstiegen der Tiefe, aber mich ergriffen Schwindel und eine sonderbare
Bangigkeit, meine Gedanken wurden hie hin und dort hin getrieben, wie
eine Fackel vom Sturmwind, bis meine Erinnerung erlosch.
8. Da ich aber wieder erwachte, und von mir zu
wissen anfieng, wußte ich nicht, wie lange ich geschlafen hatte, ob es
Jahrhunderte oder Minuten waren; denn ob ich gleich dumpfe und
verworrene Träume gehabt hatte, so war mir doch nichts begegnet, was
mich an die Zeit erinnert hätte.
9. Aber es war ein dunkles Gefühl in mir, als
habe ich geruht im Schoose dieses Meeres und sey ihm entstiegen, wie die
andern Gestalten. Und ich schien mir ein Tropfen Thau, und bewegte mich
lustig hin und wieder in der Luft, und freute mich, daß die Sonne sich
in mir spiegle, und die Sterne mich beschauten.
10. Ich ließ mich von den Lüften in raschen Zügen dahin tragen, ich gesellte mich zum Abendroth,
und zu des Regenbogens siebenfarbigen Tropfen, ich reihte mich mit
meinen Gespielen um den Mond wenn er sich bergen wollte, und begleitete
seine Bahn.
11. Die Vergangenheit war mir dahin! ich gehörte
nur der Gegenwart. Aber eine Sehnsucht war in mir, die ihren Gegenstand
nicht kannte, ich suchte immer, aber jedes Gefundene war nicht das
Gesuchte, und sehnend trieb ich mich umher im Unendlichen.
12. Einst ward ich gewahr, daß alle die
Wesen, die aus dem Meere gestiegen waren, wieder zu ihm zurückkehrten,
und sich in wechselnden Formen wieder erzeugten. Mich befremdete diese
Erscheinung; denn ich hatte von keinem Ende gewußt. Da dachte ich, meine
Sehnsucht sey auch, zurück zu kehren, zu der Quelle des Lebens.
13. Und da ich dies dachte, und fast lebendiger
fühlte, als all mein Bewußtseyn, ward plötzlich mein Gemüth wie mit
betäubenden Nebeln umgeben. Aber sie schwanden bald, ich schien mir
nicht mehr ich, und doch mehr als sonst ich, meine Gränzen konnte ich
nicht mehr finden, mein Bewußtseyn hatte sie überschritten, es war
größer, anders, und doch fühlte ich mich in ihm.
14. Erlöset war ich von den engen Schranken
meines Wesens, und kein einzler Tropfen mehr, ich war allem
wiedergegeben, und alles gehörte mir an, ich dachte, ich fühlte, wogte
im Meer, glänzte in der Sonne, kreiste mit den Sternen; ich fühlte mich in allem, und genos alles in mir.
15. Drum, wer Ohren hat zu hören, der höre! Es
ist nicht zwei, nicht drei, nicht tausende, es ist Eins und alles; es
ist nicht Körper und Geist geschieden, daß das eine der Zeit, das andere
der Ewigkeit angehöre, es ist Eins, gehört sich selbst, und ist Zeit
und Ewigkeit zugleich, und sichtbar, und unsichtbar, bleibend im Wandel,
ein unendliches Leben.
(Aus dem Sammelband 'Gedichte und Phantasien' von 1804)
ZUM GEBURTSTAG DER DICHTERIN
Über die Autorin (1780-1806)
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