Montag, 16. Februar 2015

Ernst Haeckel: Zellseelen und Seelenzellen

Kein Vorwurf wird der heutigen Naturwissenschaft und insbesondere ihrem hoffnungsvollsten Zweige, der Entwickelungslehre, häufiger gemacht, als derjenige, dass sie die lebendige Natur zu einem seelenlosen Mechanismus herabwürdige, alle Ideale aus der realen Welt verbanne und die ganze Poesie zerstöre. Wir glauben, dass unsere vorurteilsfreie, vergleichende und genetische Betrachtung des Seelenlebens jenen irrtümlichen Vorwurf entkräftet. Denn nach unserer einheitlichen und monistischen Naturauffassung ist gerade umgekehrt alle lebendige Materie beseelt, und die wundervollste aller Naturerscheinungen, die wir herkömmlich nur mit dem einen Worte "Geist" oder "Seele" bezeichnen, ist eine ganz allgemeine Eigenschaft des Lebendigen. Weit entfernt, an eine rohe und seelenlose Materie zu glauben wie unsere Gegner, müssen wir vielmehr in aller lebendigen Materie, in allem Protoplasma, die ersten Elemente alles Seelenlebens annehmen: die einfache Empfindungsform der Lust und Unlust, die einfache Bewegungsform der Anziehung und Abstoßung. Nur die Stufen der Ausbildung und Zusammensetzung dieser Seele sind in den verschiedenen lebendigen Geschöpfen verschieden und führen uns von der stillen Zellseele durch eine lange Reihe aufsteigender Zwischenstufen allmählich bis zur bewussten und vernünftigen Menschenseele hinauf.

Noch weniger können wir zugeben, dass die poetische und ideale Weltauffassung durch unsere monistische Entwickelungslehre gefährdet oder gar vernichtet wird. Freilich fehlen uns heute die Nymphen und Najaden, die Dryaden und Oreaden, mit denen die alten Griechen Quellen und Flüsse belebten, Wälder und Berge bevölkerten; sie sind mit den Göttern des Olympos längst verschwunden. Aber an die Stelle dieser menschenähnlichen Halbgötter treten die zahllosen Elementargeister der Zellen. Und wenn irgendeine Vorstellung im höchsten Grade poetisch und wahr zugleich ist, so ist es sicher die klare Erkenntnis: dass in dem kleinsten Würmchen und in dem unscheinbarsten Blümchen Tausende von selbstständigen zarten Seelen leben; dass in jedem einzelligen mikroskopischen Infusorium ebenso eine besondere Seele tätig ist wie in den Blutzellen, die rastlos in unserem Blute kreisen, in den Hirnzellen, die sich zur höchsten aller Seelenleistungen, zum klaren Bewusstsein, erheben. Von diesem Gesichtspunkte aus sehen wir in der Lehre von der Zellseele den wichtigsten Fortschritt zur Versöhnung der idealen und realen Naturbetrachtung, der alten und neuen Weltanschauung!

(Schluss des Wiener Vortrags vom 22. März 1878)

ZUM GEBURTSTAG DES BIOLOGEN

Über der Autor (1834-1919)

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