Indem die Sprache des Lebens sowohl wie der Wissenschaft der Seele
ein Gedächtnis beilegt, will sie einen Tatbestand und eine Auffassung
desselben bezeichnen, die sich etwa folgendermaßen beschreiben lassen.
Psychische Zustände jeder Art, Empfindungen, Gefühle,
Vorstellungen, die irgendwann einmal vorhanden waren und dann dem
Bewußtsein entschwanden, haben damit nicht absolut aufgehört zu
existieren. Obschon der nach innen gewandte Blick sie auf keine Weise
mehr finden mag, sind sie doch nicht schlechterdings vernichtet und
annulliert worden, sondern leben in gewisser Weise weiter, aufbewahrt,
wie man sagt, im Gedächtnis. Freilich können wir dieses ihr
gegenwärtiges Dasein nicht direkt beobachten, aber mit derselben
Sicherheit wie die Fortexistenz der Gestirne unter dem Horizont lässt
sich auch die ihre erschließen aus den Wirkungen, die davon zu unserer
Kenntnis kommen. Diese sind von verschiedener Art.
Erstens können wir in zahlreichen Fällen die anscheinend
verlorenen Zustände (oder doch, falls diese z.B. in unmittelbaren
Wahrnehmungen bestanden, ihre getreuen Phantasiebilder) durch eine
darauf gerichtete Anstrengung des Willens ins Bewußtsein zurückrufen,
wir können sie willkürlich reproduzieren. Bei den Versuchen dazu, dem Besinnen,
treten zwar nebenher allerlei Gebilde ans Licht, auf die unsere Absicht
nicht gerichtet war, oft genug auch verfehlt die letztere ihr Ziel
gänzlich, aber im allgemeinen findet sich unter den Resultaten auch
dasjenige, welches wir suchten und nun unmittelbar als das früher
Dagewesene wieder erkennen. Es wäre absurd, anzunehmen, dass unser Wille
es ganz von neuem und gleichsam aus dem Nichts geschaffen habe, es muss
vielmehr irgendwie und irgendwo noch vorhanden gewesen sein; der Wille
hat es sozusagen nur aufgefunden und uns wieder vorgeführt.
In einer zweiten Gruppe von Fällen zeigt sich dieses
Nachleben fast noch frappanter. Die einmal bewusst gewesenen Zustände
kehren nämlich oft, und oft noch nach Jahren, ohne jedes Zutun des
Willens, scheinbar von selbst ins Bewusstsein zurück, sie werden unwillkürlich reproduziert. Meist erkennen wir auch hier unmittelbar das Wiedergekehrte als ein früher Dagewesenes, wir erinnern uns seiner;
unter Umständen aber fehlt dieses begleitende Bewusstsein, wir wissen
dann nur mittelbar, dass das Jetzige identisch sein müsse mit einem
Früheren, erhalten dadurch aber nicht minder einen vollgültigen Beweis
für seine Fortexistenz in der Zwischenzeit. Wie die genauere Beobachtung
dabei lehrt, geschehen diese unwillkürlichen Reproduktionen nicht ganz
beliebig und zufällig. Vielmehr werden sie veranlasst und verursacht
durch andere, jetzt gerade gegenwärtige, psychische Gebilde, und zwar in
gewissen regelmäßigen Weisen, die in den sogenannten Assoziations-Gesetzen in allgemeinen Zügen beschrieben werden.
Endlich kann noch eine dritte reiche Gruppe von
Erscheinungen hierher gerechnet werden. Die entschwundenen Zustände
geben auch dann noch zweifellose Beweise ihrer dauernden Nachwirkung,
wenn sie selbst gar nicht, oder wenigstens gerade jetzt nicht, ins
Bewusstsein zurückkehren. Die Beschäftigung mit einem gewissen
Gedankenkreise erleichtert unter Umständen die spätere Beschäftigung mit
einem ähnlichen Gedankenkreise, auch wenn jene erste weder in ihrer
Methode noch in ihren Resultaten direkt vor die Seele tritt. Das
unermessliche Gebiet der Wirkung angesammelter Erfahrungen gehört
hierher. Dieselbe beruht darauf, dass irgendwelche Zustände oder
Vorgänge sehr häufig bewusst verwirklicht wurden. Sie besteht in der
Erleichterung des Eintritts und Ablaufs ähnlicher Vorgänge. Aber diese
Wirkung ist nicht daran gebunden, dass nun die die Erfahrung
konstituierenden Momente sämtlich wieder in das Bewusstsein zurückkehren.
Dies kann mit einem Teil derselben nebenbei auch der Fall sein; in zu
großer Ausdehnung und mit zu großer Klarheit darf es nicht geschehen,
sonst wird der Ablauf des gegenwärtigen Vorgangs geradezu gestört. Der
größere Teil des Erfahrenen bleibt dem Bewusstsein verborgen und
entfaltet doch eine bedeutende und seine Fortexistenz dokumentierende
Wirkung.
(Anfang der 1885 erschienenen 'Untersuchungen zur experimentellen Psychologie')
ZUM TODESTAG DES PSYCHOLOGEN
Über den Autor (1850-1909)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen