Donnerstag, 26. Februar 2015

Hermann Ebbinghaus: Über das Gedächtnis

Indem die Sprache des Lebens sowohl wie der Wissenschaft der Seele ein Gedächtnis beilegt, will sie einen Tatbestand und eine Auffassung desselben bezeichnen, die sich etwa folgendermaßen beschreiben lassen.

Psychische Zustände jeder Art, Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, die irgendwann einmal vorhanden waren und dann dem Bewußtsein entschwanden, haben damit nicht absolut aufgehört zu existieren. Obschon der nach innen gewandte Blick sie auf keine Weise mehr finden mag, sind sie doch nicht schlechterdings vernichtet und annulliert worden, sondern leben in gewisser Weise weiter, aufbewahrt, wie man sagt, im Gedächtnis. Freilich können wir dieses ihr gegenwärtiges Dasein nicht direkt beobachten, aber mit derselben Sicherheit wie die Fortexistenz der Gestirne unter dem Horizont lässt sich auch die ihre erschließen aus den Wirkungen, die davon zu unserer Kenntnis kommen. Diese sind von verschiedener Art.

Erstens können wir in zahlreichen Fällen die anscheinend verlorenen Zustände (oder doch, falls diese z.B. in unmittelbaren Wahrnehmungen bestanden, ihre getreuen Phantasiebilder) durch eine darauf gerichtete Anstrengung des Willens ins Bewußtsein zurückrufen, wir können sie willkürlich reproduzieren. Bei den Versuchen dazu, dem Besinnen, treten zwar nebenher allerlei Gebilde ans Licht, auf die unsere Absicht nicht gerichtet war, oft genug auch verfehlt die letztere ihr Ziel gänzlich, aber im allgemeinen findet sich unter den Resultaten auch dasjenige, welches wir suchten und nun unmittelbar als das früher Dagewesene wieder erkennen. Es wäre absurd, anzunehmen, dass unser Wille es ganz von neuem und gleichsam aus dem Nichts geschaffen habe, es muss vielmehr irgendwie und irgendwo noch vorhanden gewesen sein; der Wille hat es sozusagen nur aufgefunden und uns wieder vorgeführt.

In einer zweiten Gruppe von Fällen zeigt sich dieses Nachleben fast noch frappanter. Die einmal bewusst gewesenen Zustände kehren nämlich oft, und oft noch nach Jahren, ohne jedes Zutun des Willens, scheinbar von selbst ins Bewusstsein zurück, sie werden unwillkürlich reproduziert. Meist erkennen wir auch hier unmittelbar das Wiedergekehrte als ein früher Dagewesenes, wir erinnern uns seiner; unter Umständen aber fehlt dieses begleitende Bewusstsein, wir wissen dann nur mittelbar, dass das Jetzige identisch sein müsse mit einem Früheren, erhalten dadurch aber nicht minder einen vollgültigen Beweis für seine Fortexistenz in der Zwischenzeit. Wie die genauere Beobachtung dabei lehrt, geschehen diese unwillkürlichen Reproduktionen nicht ganz beliebig und zufällig. Vielmehr werden sie veranlasst und verursacht durch andere, jetzt gerade gegenwärtige, psychische Gebilde, und zwar in gewissen regelmäßigen Weisen, die in den sogenannten Assoziations-Gesetzen in allgemeinen Zügen beschrieben werden.

Endlich kann noch eine dritte reiche Gruppe von Erscheinungen hierher gerechnet werden. Die entschwundenen Zustände geben auch dann noch zweifellose Beweise ihrer dauernden Nachwirkung, wenn sie selbst gar nicht, oder wenigstens gerade jetzt nicht, ins Bewusstsein zurückkehren. Die Beschäftigung mit einem gewissen Gedankenkreise erleichtert unter Umständen die spätere Beschäftigung mit einem ähnlichen Gedankenkreise, auch wenn jene erste weder in ihrer Methode noch in ihren Resultaten direkt vor die Seele tritt. Das unermessliche Gebiet der Wirkung angesammelter Erfahrungen gehört hierher. Dieselbe beruht darauf, dass irgendwelche Zustände oder Vorgänge sehr häufig bewusst verwirklicht wurden. Sie besteht in der Erleichterung des Eintritts und Ablaufs ähnlicher Vorgänge. Aber diese Wirkung ist nicht daran gebunden, dass nun die die Erfahrung konstituierenden Momente sämtlich wieder in das Bewusstsein zurückkehren. Dies kann mit einem Teil derselben nebenbei auch der Fall sein; in zu großer Ausdehnung und mit zu großer Klarheit darf es nicht geschehen, sonst wird der Ablauf des gegenwärtigen Vorgangs geradezu gestört. Der größere Teil des Erfahrenen bleibt dem Bewusstsein verborgen und entfaltet doch eine bedeutende und seine Fortexistenz dokumentierende Wirkung.

(Anfang der 1885 erschienenen 'Untersuchungen zur experimentellen Psychologie')

ZUM TODESTAG DES PSYCHOLOGEN

Über den Autor (1850-1909)

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