Der Mensch ist auf zwiefache Weise Dichter: in der Anschauung und in der Mitteilung.
Die natürliche Dichtungsgabe ist die Fähigkeit, die seinen
Sinnen von außen sich kundgebenden Erscheinungen zu einem inneren Bilde
von ihnen sich zu verdichten; die künstlerische, dieses Bild nach außen wieder mitzuteilen.
Wie das Auge die entfernter liegenden Gegenstände nur in immer
verengtem Maßstabe aufzunehmen vermag, kann auch das Gehirn des
Menschen, der Ausgangspunkt des Auges nach innen, an dessen durch den
ganzen inneren Lebensorganismus bedingte Tätigkeit dieses die
aufgenommenen äußeren Erscheinungen mitteilt, zunächst sie nur nach dem
verjüngten Maße der menschlichen Individualität erfassen. In diesem Maße
vermag aber die Tätigkeit des Gehirnes die ihm zugeführten, nun von
ihrer Naturwirklichkeit losgelösten Erscheinungen zu den umfassendsten
neuen Bildern zu gestalten, wie sie aus dem doppelten Bemühen, sie zu
sichten oder im Zusammenhange sich vorzuführen, entstehen, und diese
Tätigkeit des Gehirnes nennen wir Phantasie.
Das unbewußte Streben der Phantasie geht nun dahin, des
wirklichen Maßes der Erscheinungen innezuwerden, und dies treibt sie zur
Mitteilung ihres Bildes wieder nach außen, indem sie ihr Bild, um es
der Wirklichkeit zu vergleichen, dieser gewissermaßen anzupassen sucht.
Die Mitteilung nach außen vermag aber nur auf künstlerisch vermitteltem
Wege vor sich zu gehen; die Sinne, welche die äußeren Erscheinungen
unwillkürlich aufnahmen, bedingen, zur Mitteilung des Phantasiebildes
wiederum an sie, die Abrichtung und Verwendung des organischen
Äußerungsvermögens des Menschen, der sich verständlich an diese Sinne
mitteilen will. Vollkommen verständlich wird das Phantasiebild in seiner
Äußerung nur, wenn es sich in eben dem Maße wieder an die Sinne
mitteilt, in welchem diesen die Erscheinungen ursprünglich sich
kundtaten, und an der seinem Verlangen endlich entsprechenden Wirkung
seiner Mitteilung wird der Mensch erst des richtigen Maßes der
Erscheinungen insoweit inne, als er dies als das Maß erkennt, in welchem
die Erscheinungen dem Menschen überhaupt sich mitteilen. Niemand kann
sich verständlich mitteilen als an die, welche die Erscheinungen in dem
gleichen Maße mit ihm sehen: dieses Maß ist aber für die Mitteilung das
verdichtete Bild der Erscheinungen selbst, in welchem diese sich den
Menschen erkenntlich darstellen. Dieses Maß muß daher auf einer
gemeinsamen Anschauung beruhen, denn nur was dieser gemeinsamen
Anschauung erkenntlich ist, läßt sich ihr künstlerisch wiederum
mitteilen: ein Mensch, dessen Anschauung nicht die gemeinsame ist, kann
sich auch nicht künstlerisch kundgeben. – Nur in einem beschränkten Maße
innerer Anschauung vom Wesen der Erscheinungen hat sich seit
Menschengedenken bisher der künstlerische Mitteilungstrieb bis zur
Fähigkeit überzeugendster Darstellung an die Sinne ausbilden können: nur
der griechischen Weltanschauung konnte bis heute noch das wirkliche
Kunstwerk des Dramas entblühen. Der Stoff dieses Dramas war aber der Mythos, und aus seinem Wesen können wir allein das höchste griechische Kunstwerk und seine uns berückende Form begreifen.
Im Mythos erfaßt die gemeinsame Dichtungskraft des Volkes
die Erscheinungen gerade nur noch so, wie sie das leibliche Auge zu
sehen vermag, nicht wie sie an sich wirklich sind. Die große
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, deren wirklichen Zusammenhang der
Mensch noch nicht zu fassen vermag, macht auf ihn zunächst den Eindruck
der Unruhe: um diese Unruhe zu überwinden, sucht er nach einem
Zusammenhange der Erscheinungen, den er als ihre Ursache zu begreifen
vermöge: den wirklichen Zusammenhang findet aber nur der Verstand, der
die Erscheinungen nach ihrer Wirklichkeit erfaßt; der Zusammenhang, den
der Mensch auffindet, der die Erscheinungen nur noch nach den
unmittelbarsten Eindrücken auf ihn zu erfassen vermag, kann aber bloß
das Werk der Phantasie und die ihnen untergelegte Ursache eine Geburt
der dichterischen Einbildungskraft sein. Gott und Götter sind die ersten
Schöpfungen der menschlichen Dichtungskraft: in ihnen stellt sich der
Mensch das Wesen der natürlichen Erscheinungen als von einer Ursache
hergeleitet dar; als diese Ursache begreift er aber unwillkürlich nichts
anderes als sein eigenes menschliches Wesen, in welchem diese
gedichtete Ursache auch einzig nur begründet ist. Geht nun der Drang des
Menschen, der die innere Unruhe vor der Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen bewältigen will, dahin, die gedichtete Ursache derselben
sich so deutlich wie möglich darzustellen – da er Beruhigung nur durch
dieselben Sinne wiederum zu gewinnen vermag, durch die auf sein Inneres
beunruhigend gewirkt wurde –, so muß er den Gott sich auch in derjenigen
Gestalt vorführen, die nicht nur dem Wesen seiner rein menschlichen
Anschauung am bestimmtesten entspricht, sondern auch als äußerliche
Gestalt ihm die verständlichste ist. Alles Verständnis kommt uns nur
durch die Liebe, und am unwillkürlichsten wird der Mensch zu den Wesen
seiner eigenen Gattung gedrängt. Wie ihm die menschliche Gestalt die
begreiflichste ist, so wird ihm auch das Wesen der natürlichen
Erscheinungen, die er nach ihrer Wirklichkeit noch nicht erkennt, nur
durch Verdichtung zur menschlichen Gestalt begreiflich. Aller
Gestaltungstrieb des Volkes geht im Mythos somit dahin, den weitesten
Zusammenhang der mannigfaltigsten Erscheinungen in gedrängtester Gestalt
sich zu versinnlichen: diese zunächst nur von der Phantasie gebildete
Gestalt gebart sich, je deutlicher sie werden soll, ganz nach
menschlicher Eigenschaft, trotzdem ihr Inhalt in Wahrheit ein
übermenschlicher und übernatürlicher ist, nämlich diejenige
zusammenwirkende vielmenschliche oder allnatürliche Kraft und Fähigkeit,
die, als nur im Zusammenhange des Wirkens menschlicher und
natürlicher Kräfte im Allgemeinen gefaßt, allerdings menschlich und
natürlich ist, gerade aber dadurch übermenschlich und übernatürlich
erscheint, daß sie der eingebildeten Gestalt eines menschlich
dargestellten Individuums zugeschrieben wird. Durch die Fähigkeit, so
durch seine Einbildungskraft alle nur denkbaren Realitäten und
Wirklichkeiten nach weitestem Umfange in gedrängter, deutlicher
plastischer Gestaltung sich vorzuführen, wird das Volk im Mythos daher
zum Schöpfer der Kunst; denn künstlerischen Gehalt und Form müssen
notwendig diese Gestalten gewinnen, wenn, wie es wiederum ihre
Eigentümlichkeit ist, sie nur dem Verlangen nach faßbarer
Darstellung der Erscheinungen, somit dem sehnsüchtigen Wunsche, sich und
sein eigenstes Wesen – dieses gottschöpferische Wesen – selbst in dem
dargestellten Gegenstande wiederzuerkennen, ja überhaupt erst zu
erkennen, entsprungen sind. Die Kunst ist ihrer Bedeutung nach nichts
anderes als die Erfüllung des Verlangens, in einem dargestellten
bewunderten oder geliebten Gegenstande sich selbst zu erkennen, sich in
den durch ihre Darstellung bewältigten Erscheinungen der Außenwelt
wiederzufinden. Der Künstler sagt sich in dem von ihm dargestellten
Gegenstande: »So bist du, so fühlst und denkst du, und so würdest du
handeln, wenn du, frei von der zwingenden Unwillkür der äußeren
Lebenseindrücke, nach der Wahl deines Wunsches handeln könntest.« So
stellte das Volk im Mythos sich Gott, so den Helden und so endlich den Menschen dar.
(Aus der 1850/51 in Paris entstandenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES KÜNSTLERS
Über den Autor (1813-1883)
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