Sonntag, 15. Februar 2015

Wilhelm Heinse: Sokrates und der Witwer

Das frömmste Herz, der schönste Leib,
Das inniglich geliebte Weib,
Wird ihres jungen Mannes Küssen
Durch einen frühen Tod entrissen.
Untröstlich über den Verlust,
Zückt er den Dolch auf seine Brust,
Gehindert von getreuen Händen
Zerstößt er sich die Stirn an Wänden.
Kaum zähmen Bande seine Wuth,
Daß er sich nicht ein Leid anthut.
Auf Bitte wird er losgebunden,
Allein vom Schmerz ganz überwunden,
Begiebt er sich zu dem Sokrat,
Und bittet flehentlich um Rath.

Ach! sprach er, Weisester auf Erden,
Kann meiner Noth geholfen werden?
Ich soll nicht sterben, da das Licht
Mir dennoch tausend Geißeln flicht.

Der Weise schlug die Augen nieder:
Komm, sagt' er, nach acht Monden wieder.
Ja! nach acht Monden, welche Zeit!
Da hatt' er wiederum gefreyt.

(Aus den 1775 erschienenen 'Erzählungen für junge Damen und Dichter')

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1746-1803)

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