Samstag, 14. Februar 2015

Arthur Eloesser: Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart

Die Germanen treten in die Weltgeschichte ein als Kämpfer gegen das römische Imperium. Tacitus beschreibt sie als ein Naturvolk, das den abschließenden Ordnungen der Zivilisation widerstrebt. Die Germanen machen keine Bilder von ihren Göttern; das Göttliche wird verehrt im Brausen des Windes, im Rieseln der Quellen, im Rauschen der heiligen Eichen. Ihre Seele gehört der Natur, sie ist fließend und gestaltlos. Diese Gestaltlosigkeit bleibt das Wesen unserer Geschichte, das Germanentum ergießt sich über Europa und darüber hinaus in ungeheuren Wellen, die erschöpften Kulturboden wieder verjüngen, die auch spurlos im Sande nach ungeheurer Verschwendung wieder verrinnen. Die deutschen Kaiser bemächtigen sich der Idee der Weltherrschaft, der europäischen Einheit, sie unterliegen gegen die geistliche Herrschaft, die das Christentum in die Fundamente der antiken Überlieferung, der römischen Organisation eingebaut hat. Der Westen Deutschlands, eine frühe römische Kolonie, ist romanisiert und höher kultiviert, der Osten wird zum Gebiet einer langen, harten Kolonisationsgeschichte mit abwechselnden Vorstößen und Rückzügen, mit Blutmischungen zwischen Germanen und Slawen, die sehr verschieden ausfallen. Deutschland wird und ist heute noch das Land der unbestimmten Grenzen. Über die des Westens ging die Lockung einer früher geformten, sichtbareren, leichter mittelbaren Kultur, die des Ostens bedrohte der Gegendruck durch die größere Masse der von uns kolonisierten jüngeren Völker. Während die deutschen Kaiser einen europäischen Raum beherrschen, der viel weniger Realität hat als die geistliche Herrschaft des Papsttums, bilden sich an den deutschen Grenzen und Küsten, an den Quellen und Mündungen unserer Flüsse, auf den vorgelagerten Inseln und Halbinseln die Nationalstaaten, die schon früh Gestalt annahmen in politischer, geistiger, kultureller Hinsicht, und von denen fast jeder auf Deutschland oder wenigsten auf den ihm zugekehrten Teil Deutschlands als Vorbild gewirkt hat. Es ist ein Irrtum, der dieses weibliche Verhalten Deutschlands, diese Hingezogenheit und Hingegebenheit aus der politischen Schwächung während der Religionskämpfe wie aus dem Aderlass des Dreißigjährigen Kriegs erklärt. Die Überfremdung beginnt bereits im 16. Jahrhundert, Deutschland geht nicht mehr im gleichen Schritt mit den politisch geeinten, mit den kulturell geschlossenen Völkern Europas. Im Theater Shakespeares lärmten die Matrosen der englischen Kaperschiffe, in den Logen saßen ihre Kapitäne, die Raleigh und Drake, die mit ihnen eine Welt zu erobern begannen. Die Wasserträger von Madrid stritten über die Schönheit eines Calderonschen Verses. Der französische Baron Montaigne, Weltmann, Reisender, Literat, begründete die Machtstellung der französischen Prosa, es wurde internationale Mode, ihm nachzudenken und ihm nachzusprechen. Deutschlands politische Geschichte überdeckt nicht seine geistige Geschichte, es wird sein Schicksal, dass die Sphären der Macht und des Geistes sich nicht mehr schneiden, dass sie vielmehr in eine antipodische Spannung geraten. Der kaiserliche Hof ist spanisch, die süddeutschen Fürstenhöfe stehen unter italienischer Bildung, die Adligen beginnen französisch zu sprechen und noch ein Opitz versucht sich mit einer lateinischen Verteidigungsschrift zur Rettung der deutschen Sprache.

(Beginn des zweibändigen Hauptwerks von 1930/31)

ZUM TODESTAG DES JOURNALISTEN

Über den Autor (1870-1938)

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